Seelenasche
schwerfälligen Sinnen und ohne Neugier. Eine Schizophrenie war natürlich nur mit sehr viel Geduld und Aufmerksamkeit zu heilen. Im Fernsehen, wo man blitzschnell auf alles reagieren musste, hieà so etwas Lahmarschigkeit und hätte zu schleuniger Entlassung geführt.
Mit besonderer Feindseligkeit erfüllte ihn Grischa, und dies nicht etwa, weil der versuchte, groÃmütig mit Jordan umzugehen. Grischa war der Begründer der Gruppentherapie in Bulgarien. Er versammelte seine Einsam-und-Verlassenen jeden Mittwoch und Freitag. Neda ging hin, um in die kaum fassbare Atmosphäre verklemmter Wahnbilder und schöpferischer Beschaulichkeit ihres Gurus einzutauchen. Ihre Dissertation trug den donnernden Titel Die Ekstase der Einsamkeit und das Unterbewusste . Darin versuchte sie, Neurosen mit dem Fehlen von Liebe und Zuwendung und mit der Entfremdung zu erklären. Jeder dieser in seiner Einsamkeit verschroben gewordenen Käuze erzählte in der Gruppe von seinen Problemen; anschlieÃend erörterten alle gemeinsam seine Bekenntnisse, bis der Kern des Problems vollkommen herausgeschält war. Die Atmosphäre freien und freiwilligen Austauschs in der Gruppe war in der Tat beeindruckend. Es grenzte an Exhibitionismus, wie sich alle um restlose Offenheit, um völlige seelische EntblöÃung bemühten. Es sah ganz so aus, als wirke die Gruppentherapie in ähnlicher Weise reinigend auf die Seele wie Rizinusöl bei Verstopfung. Als er Neda gegenüber diesen Vergleich äuÃerte, durfte er einen Monat lang nicht zu ihr ins Bett.
Wovor er sich fürchtete, war aber etwas anderes. Der Sinn der Gruppentherapie bestand ja darin, dass die Leidenden durch die EntblöÃung ihrer intimsten Seelenpein untereinander emotionale Bindungen entwickelten. Ob beabsichtigt oder nicht, mit der Zeit entstand daraus eine gegenseitige Abhängigkeit, die der von Verliebten ähnelte â nur dass hier zwölfe sich in einen verwandelten und doch zwölfe blieben. So wie Noah der von Gott Erwählte war, der für die ganze Menschheit stand, so war auch der besprochene, erörterte und von der Gruppe mit Mitgefühl bedachte Neurotiker zugleich er selbst und alle , folglich resozialisiert und normal.
»Mithilfe der Liebe«, hatte Neda ihm gesagt, »glaubt Fromm, dass wir das Hauptproblem unserer Existenz überwinden können, nämlich Angst und Entfremdung.«
»Vor deinem Fromm«, erwiderte Jordan wenig sensibel, »hat Jesus von Nazareth dasselbe auch schon gepredigt, und selbst ich â was erzähle ich den Leuten denn jeden Samstag?«
Diese Antwort trug ihm einen weiteren Monat Liebesentzug ein. Na gut, die Sache mit der Kommunikation in der Gruppe und der Euphorie, die das erzeugte, verstand und akzeptierte er ja noch. Doch die Arbeit fürs Fernsehen hatte ihn gelehrt, dass die Erzeugung von Gemeinschaftsgefühlen immer im Interesse eines Einzelnen stand, der nach Macht strebte. Die freigesetzte Liebesenergie jeder Gruppe konzentrierte sich letztlich auf ihren Leiter, und Leiter von Nedas Gruppe war eben der kurzsichtige Charakterkopf Grischa. Er hatte ja nichts dagegen, dass Leute mit psychischen Problemen ihren Lehrer vergötterten. Was ihm gegen den Strich ging, war halt nur, dass seine eigene Frau mit so flammender Begeisterung und Lerneifer mit von der Gruppenpartie war! Darauf war er eifersüchtig. Er hatte Angst um ihre Beziehung. Denn Wahnsinn war nicht ansteckend, Liebe aber durchaus. Er sehnte das nächste Erdbeben geradezu herbei! Er suchte die Nähe seiner Tochter, so als wären ihre Precious-Wilson-Zöpfchen die Taue, die das Familienschiff im sicheren Hafen hielten. Jeden Monat stellte er sie vor das Zentimetermaà an der Küchentür und machte einen neuen Strich mit rotem Kuli oberhalb des letzten. Sie bliesen Seifenblasen vom Balkon und schauten, wie weit sie flogen, während das Raubtiereanschauen im Zoo und die russische Zeichentrickserie Nu Pogody mit dem lustigen Wolf ihn langsam mit diffuser Melancholie erfüllten.
Doch ihre kleine Gruppe â die, die aus ihm und Jana bestand â besaà nicht die Anziehungskraft des geheimnisvoll Unbestimmten und Ungewissen. Er wurde das Gefühl nicht los, dass Nedas »Kunst des Liebens« à la Fromm sie vor allem dazu verleitete, ihm Jana durch unablässige Fürsorge und aus reinem Verantwortungsgefühl zu entfremden. Es war schon ein Reflex, dass sie den
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