Seelenasche
dazugelegt, und im Bad ein sauberes Badehandtuch und Shampoo. Nun las sie im Licht ihrer Nachttischlampe, und an sie gekuschelt ihre Tochter Jana. Seit zwei Jahren schliefen und lebten Jordan und seine Frau in getrennten Zimmern. Jordan schlief nun in Jonkas Bett im Wohnzimmer der Mansarde.
Jonka! Es durchfuhr ihn wie ein Blitz, gefolgt von einem scharfen Schmerz. Nur Jonka hätte die Dinge kitten können, sie, die Kinderlose, die Mutter aller, die unaufdringlich, aber beharrlich die Sippe zusammengehalten hatte. Er kannte Jonka, die eigentlich gar nicht seine »richtige« GroÃmutter war, sondern die Tante seines Vaters, als alte, weise Frau, unauffällig wie die Zeit. Die Zeit aber trennt, und die Zeit fügt und ordnet Dinge und ihre Bedeutungen. In ihrer Bibel hatte Jonka die Genealogie der ganzen Sippe verzeichnet, den Stammbaum ihrer aller Abkunft, ihrer Wurzeln in der Vergangenheit. Nur sie hätte Emilias Mitgefühl wecken und seinen Vater umstimmen können, und diese Macht hatte sie, weil sie sich an alles erinnerte. Und weil sie liebte! Sogar einer der Professoren in seiner heutigen Sendung hatte gesagt: »Die Liebe und das menschliche Gedächtnis vereinen Logik und Erkenntnis mit Intuition und Gefühl, das individuell Bedeutsame mit dem Allgemeinen, indem sie sie beleben. Die Maschine mag zwar alles speichern können, sogar für immer, aber ihre Erinnerungen sind tot.« Ja, ohne Jonka waren die Erinnerungen an das Familienerbe und damit ihr ganzer Umgang miteinander tot, dachte Jordan. Nun sind wir alle frei, und es ist ganz egal, was wir tun oder lassen.
»Oh, ich weià sogar genau, wie spät es ist«, antwortete Jordan mit frechem Grinsen, »es ist eine halbe Stunde vor Mitternacht.«
»Seltsame Zeit für einen Besuch, meinst du nicht?«
»Um mich herum geschehen ja auch seltsame Dinge! Sogar so seltsame, dass mir ganz schwindlig wird.«
»Sie haben dich doch nicht etwa beim Fernsehen entlassen? Oder dich zum Moderator von Jeden Sonntag befördert?«
»Sehr witzig!« Jordan setzte sich seinem Vater gegenüber auf das Kanapee. Um seine Stiefel bildete sich eine kleine Pfütze. »Ich hab mit Emilia im Russischen Klub zu Abend gegessen.«
Sein Schweigen wurde nun beredt und lebendig wie die Schatten, die die Flammen warfen. Die Stille zwischen ihnen leuchtete, schmolz das Gesicht seines Vaters. Seine metallisch-grauen Augen erwärmten sich und wurden wieder blau. Er trug eine elegante Strickjacke und eine tadellos gebügelte Hose. Etwas Jungenhaftes, provozierend Extravagantes ging von ihm aus, das Jordan ärgerte.
»Gieà uns einen ein.«
»Du bist doch mit dem Wagen da? Ich hab gehört, wie deine Reifen vor dem Haus durchgedreht sind.«
»Den Verkehrspolizisten ist auch kalt. AuÃerdem bin ich bekannt wie ein bunter Hund, und Bekanntheit stimmt sie milde. So ist der Mensch halt: Jemand Berühmtem vergibt er lieber, als ihn zu bestrafen.«
»Leider hast du recht. Berühmtheit zieht die Leute an wie die Motten das Licht. Wollen alle bisschen davon abhaben. So einem Schlitzohr wie dir live zu begegnen, das ist ja für einen Verkehrspolizisten eine Sternstunde in seiner Karriere.«
Behende sprang sein Vater auf, ging zur Bar, holte eine Flasche Whisky heraus, zwei Gläser und eine Karaffe mit Wasser, in dem sich schon lauter Bläschen gebildet hatten. Wenigstens um diese späte Stunde sah er vital, stark und unabhängig aus. Erst jetzt dämmerte Jordan der Grund für seine Verärgerung zuvor: Sein Vater versuchte, nun selbst ein wenig eitel zu sein, nachdem ihn die Eitelkeit der anderen ein Leben lang abgestoÃen hatte. Aber nun, wo er allein war, wollte er wenigstens sich selbst gefallen. Er wusch sich seine Socken, bügelte Wäsche und Hemden selbst, kochte sich Kaffee und ein Mittagessen, und in der verbleibenden Zeit musste er seiner würdigen Erscheinung Inhalt und seinem Akademikerrang Gestalt geben. Vielleicht hatte er sich sogar ein Liebchen geangelt, das er bei Bedarf anrufen und zu sich bitten konnte, um ihr wahre Märchen von Recht und Gesetz zu erzählen.
Nein, jetzt wurde er aber sarkastisch, und das tat seinem Charme gar nicht gut! Jordan fürchtete sich davor, jemanden zu hassen, egal wen, denn Hass bedeutete Unfreiheit, seelische Armut. Hass war eine Krankheit, die den Glanz des Erfolgs trübte.
»Hast du Emilia mal betrogen?«
»Frecher
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