Seelenband
ich wollte Sie nicht erschrecken." Sein Kopf zuckte hoch, als müsste er sich zwingen, sie anzusehen. "Wissen Sie schon, was Sie wollen, oder soll ich Ihnen die Getränkekarte geben?" fragte er noch einmal höflich nach.
"Ja, nein", stammelte Valerie plötzlich verwirrt. "Einen Erdbeer-Shake, bitte." Sie hätte schwören können, dass die Andeutung eines Lächelns über seine Lippen huschte, als er sich abwandte. Aber das kümmerte sie nicht. Es waren seine Augen, die wieder ihre Aufmerksamkeit gefesselt hatten. Sie hatte sich nicht geirrt. Sie waren so unnatürlich schwarz, wie sie sie in Erinnerung hatte. Aber aus der Nähe sah sie, dass sie sich gleichzeitig doch geirrt hatte. Die Augen waren nicht leer. Vielmehr strahlten sie eine abgrundtiefe Traurigkeit aus, die an Verzweiflung grenzte.
Er drehte sich wieder zu ihr um, um ihr ihren Shake zu reichen, und sie senkte rasch den Blick.
"Möchten Sie noch etwas?" fragte er höflich und sie verneinte rasch. Die Worte, die Bewegungen, sie wirkten bei ihm auf eigenartige Weise aufgesetzt und unnatürlich, als müsste er sich zu jedem einzelnen Atemzug zwingen.
Valerie holte ihr Buch aus ihrer Handtasche und schlug es auf. Während sie zu lesen vorgab, beobachtete sie ihn aus dem Augenwinkel. Da er seinen Blick wieder gesenkt hatte und beinahe regungslos verharrte, war das nicht weiter schwer. Nur wenn ein Kunde sich suchend nach einem Kellner umblickte oder einer der Kollegen eine Bestellung aufgab, kam etwas Leben in seinen Körper, aber nur gerade soviel, wie nötig, um seine Arbeit zu erledigen. Immerhin verstand er etwas davon, der Milchshake, den er ihr gemacht hatte, war einfach köstlich.
Bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen er sprach, lauschte Valerie fasziniert seiner Stimme und versuchte seinen Akzent einzuordnen. Vielleicht rumänisch, dachte sie schließlich, als ihr keine andere Erklärung einfiel. Dazu passten in ihrer Vorstellung auch sein bronzefarbener Teint und die kurzen, aber dichten schwarzen Haare. Das würde auch die dunklen Augen erklären, dachte sie sich.
Als sie durch ihren Strohhalm plötzlich Luft einsog, fiel ihr auf, dass ihr Glas leer war. Er musste es auch gehört haben, denn er wandte sich zu ihr um. "Möchten Sie noch einen?"
"Nein, danke." Sie kramte nach ihrer Brieftasche. "Ich würde dann gerne zahlen." Sie reichte ihm einen Schein herüber. "Der Rest ist für Sie."
Er nahm das Geld entgegen, nickte höflich und wandte sich wieder ab.
"Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag", sagte Valerie, als sie sich erhob. Ganz wortlos wegzugehen, empfand sie irgendwie als unhöflich.
Er blickte überrascht auf, als ob es ihm neu war, dass Tage auch schön sein konnten. "Danke, Ihnen auch", erwiderte er dennoch höflich und endlich stahl sich ein Funke von Leben in die unheimlichen Augen.
Als Valerie das Café verließ, war sie verwirrt. Sie hatte sich definitiv nicht eingebildet, dass mit ihm irgendetwas nicht stimmte. Doch dem
was
, war sie kein Stück näher gekommen. Sie konnte nicht einmal sicher sein, dass er nicht doch jeden Augenblick ausrasten und seinem wertlosen Leben ein Ende setzen würde. Und sie konnte von Glück reden, wenn er nicht noch ein paar unschuldige Menschen mit sich nahm. Valerie schüttelte irritiert den Kopf. Wieso war das eigentlich ihr Problem? Und doch brannte sie vor Neugier. Vermutlich, weil ihr Leben schon so lange in eintönigen Bahnen verlief, dass sie für jede Abwechslung dankbar war.
Am nächsten Morgen schaute sie noch vor der Arbeit im
"Pablo"
vorbei, um sich einen großen Latte Macchiato für unterwegs zu holen. Obwohl sie erst im letzten Augenblick daran gedacht hatte, dass der Mann so früh am Morgen womöglich gar nicht da war, wurde sie nicht enttäuscht. Er stand unverändert an seinem Platz hinter der Kaffeemaschine in dem ansonsten leeren Café. Anscheinend lohnte es sich nicht, um diese Zeit mehr als einen Angestellten zu beschäftigen. Als Valerie näher kam, blickte er kurz auf und obwohl er keine Miene verzog, hatte sie irgendwie das Gefühl, dass er neugierig war. Vielleicht bildete sie sich das aber auch bloß ein. Sie bestellte ihren Kaffee, er machte ihn fertig, Geld wechselte den Besitzer und sie verließ das Café. Keine fünf Minuten, nachdem sie es betreten hatte, war sie wieder unterwegs zur Arbeit mit einem ausgezeichneten Latte Macchiato in der Hand.
Als sie am Abend wieder nach Hause kam, blinkten auf ihrem Anrufbeantworter zwei neue Nachrichten. Valerie drückte auf
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