Seelenband
sogar die Sicherheitskette davor, etwas, dass sie zugegebenermaßen nur zu oft vernachlässigte. Dann ging sie ins Badezimmer, verschloss auch da die Tür, zog sich aus und stellte sich unter die Dusche. Während das kühle Wasser den Schweiß und Staub von ihrem Körper wusch, wich auch ihre Anspannung ein wenig und sie kam sich zunehmend albern vor. Wegen ein paar eigenartiger Augen derart in Panik zu verfallen, war einfach lächerlich. Insbesondere, wenn sie an die Vielzahl schräger Gestalten dachte, denen sie tagtäglich in den Straßen begegnete.
Sie zog sich ein leichtes Trägerkleidchen an und rubbelte sich die kurzen braunen Haare mit einem Handtuch trocken, während sie in ihrem Kühlschrank nach etwas Essbarem suchte. Mit einem Sandwich und einem Apfel zum Nachtisch setzte sie sich schließlich in ihren Lieblingssessel. Dann schnappte sie sich das auf der Lehne liegende Buch und begann zu lesen. Zumindest versuchte sie es, denn irgendwie fiel es ihr schwer, sich zu konzentrieren. Ihre Gedanken kehrten immer wieder zu dem unheimlichen Kellner zurück. Sie hätte so gern mit jemandem darüber gesprochen. Doch ihre Eltern waren weit weg und sie wollte sie mit solchen Hirngespinsten nicht unnötig beunruhigen. Es war ihnen ohnehin schwer genug gefallen, sie
in die Ferne
ziehen zu lassen. Und Linda, ihre beste Freundin, hatte vor ein paar Monaten geheiratet und war mit ihrem Mann weggezogen. Da sie jetzt auch noch ein Baby erwarteten, hatte sie genug eigene Sorgen. Nein, damit würde Valerie wohl allein klarkommen müssen.
Am nächsten Morgen schaltete Valerie als erstes die Lokalnachrichten ein, nur so, um zu wissen, ob der unheimliche Kellner nicht doch ein Psychopath oder Amokläufer gewesen war. Aber die Nachrichten brachten nichts Außergewöhnliches: einige Raubüberfälle und Ladendiebstähle, nichts weiter. Es gab keinen Meuchelmörder, der plötzlich sein Unwesen trieb, keine Autobombe oder ein Selbstmordattentat. Erleichtert schaltete Valerie den Fernseher wieder aus. Dann kam ihr der Gedanke, dass er vielleicht erst noch auf den richtigen Augenblick wartete. Um kein Risiko einzugehen, rief sie sich ein Taxi, anstatt wie gewohnt zu Fuß zur Arbeit zu gehen.
Während des ganzen Tages kreisten ihre Gedanken immer wieder um diesen Mann und ihre Reaktion auf ihn. Rational wusste sie, dass sie ganz entschieden überreagierte, aber sie konnte einfach nichts dagegen tun. Daher beschloss sie, einfach ein wenig abzuwarten und sich in der Zwischenzeit auf die wirklich wichtigen Dinge zu konzentrieren, wie ihren Job und den Versuch, wieder ein nennenswertes Privatleben aufzubauen.
Und bis dahin würde sie das
"Pablo"
einfach meiden.
Diesem guten Vorsatz zum Trotz verspürte Valerie jedoch, als sie bei dem Heimweg wieder an dem Café vorüber ging, eine fast überwältigende Neugier, die sie hineinzog. Vielleicht hatte sie es sich ja nur eingebildet, vielleicht war der Mann auch gar nicht mehr da, vielleicht machte sie sich ganz unnötig Sorgen.
Nur mit Mühe gelang es ihr, ihren Weg einfach fortzusetzen, ohne einen Blick ins Innere zu werfen oder sich noch einmal umzublicken, sobald sie daran vorbei gegangen war.
In den nächsten Tagen studierte Valerie hartnäckig die Lokalnachrichten. Als jedoch eine Woche verging, ohne dass etwas Ungewöhnliches passiert war, beschloss sie schließlich, noch einmal ins Café zu gehen und mit eigenen Augen zu überprüfen, ob ihre Paranoia einen Grund hatte.
Als sie dann jedoch davor stand, drohte ihr Mut sie beinahe zu verlassen, und Valerie wunderte sich über sich selbst. Mit hämmerndem Herzen öffnete sie schließlich die Tür und trat hinein. Sofort schoss sie einen Blick zur Theke und schluckte. Er stand tatsächlich hinter der Kaffeemaschine mit gesenktem Kopf und in einem langärmligen Hemd, als wären keine fünf Minuten seit dem Augenblick vergangen, als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte.
Falls er von ihr Notiz genommen hatte, zeigte er es nicht. Valerie reckte ihr Kinn entschlossen ein wenig höher und ging zielstrebig auf einen der leeren Barhocker an der Theke zu. Die anderen Kellner waren gerade beschäftigt und als sie sich setzte, war sie gespannt, ob er sie ansprechen würde.
"Brauchen Sie die Karte?" fragte er sie plötzlich, ohne den Kopf zu heben.
Valerie zuckte beim Klang seiner Stimme zusammen. Sie war melodisch und hatte einen leichten, fremdartig gutturalen Akzent. Und wie der Rest von ihm wirkte sie irgendwie leblos, unwirklich.
"Verzeihen Sie,
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