Seelenband
John wartete, bis die Mutter das Zimmer verlassen hatte, dann wandte er sich wieder Valerie zu. Auch wenn sie schlief, wollte er keinen Augenblick mit ihr vergeuden.
Als Valeries Eltern zu Bett gegangen waren, holte er auch Nalla in Valeries Zimmer herüber und legte das Mädchen neben sie aufs Bett. Es gab so vieles, was er den beiden noch sagen wollte, bevor er sie verließ, und doch fehlten ihm die Worte. Er konnte nichts weiter tun, als ihre Hände zu halten und sich ganz der Liebe hinzugeben, die er für die beiden empfand.
Schließlich holte John ein Blatt Papier hervor, um Valerie einen Brief zu schreiben. Er hoffte, dass es ihr helfen würde, wenn sie die Gründe für sein Handeln verstand. Und er hoffte auch, dass sie Nalla bei sich behalten und ihr helfen würde, sich in dieser Welt zurecht zu finden. Er sah seine Tochter nachdenklich an. Es wäre mittelfristig bestimmt leichter für sie, wenn sie nach Hause zurückkehren könnte. Aber er wollte, dass sie frei aufwuchs, nicht als Sklavin einer sinnlosen Tradition, die ihr nach der Mutter auch den Vater gestohlen hatte. Nein, bei Valerie würde es ihr besser gehen.
Es tut mir leid, schrieb er in Valeries Brief. So leid, dass ich dich nun verlassen muss, so leid, dass ich dir meine Tochter hinterlasse, die du erst seit einigen Tagen kennst. Wenn es einen anderen Weg gäbe, würde ich euch um nichts in der Welt verlassen. Aber ich sehe keinen.
Tränen verschleierten seinen Blick und seine Handgelenke fingen zu brennen an. Er rieb über seine Bindungsringe, um den Schmerz zu vertreiben. Es war so schön gewesen, einfach nur zu leben, glücklich und unbeschwert. Und doch hatte Valerie Recht, für ihn war es einfacher. Sein Leid würde unerträglich, aber von kurzer Dauer sein. Sie würde zwar keine körperlichen Schmerzen haben, doch ihre Seele würde nicht weniger leiden, davon war er mittlerweile überzeugt. Er konnte nur hoffen, dass sie irgendwann jemand anders finden würde, der ihre Seele heilen würde, so wie sie die seine geheilt hatte.
Valerie bewegte sich unruhig im Schlaf.
"Ich liebe dich, für immer", flüsterte er und schrieb diesen Satz in die letzte Zeile seines Briefes. Dann faltete er das Papier zusammen, schrieb ihren Namen darauf und legte ihn auf das Nachttischchen an ihrem Bett.
Valerie bewegte sich erneut und er strich ihr zärtlich über die Wange. Dann sah er aus dem Fenster. Der Sonnenaufgang war nicht mehr weit. Er sollte gehen und doch konnte er sich nicht losreißen. Er hatte noch ein paar Minuten.
Valerie und Nalla würden noch einige Stunden lang schlafen, er hatte das Beruhigungsmittel sehr großzügig dosiert. Er wollte ihnen auf jeden Fall den Schmerz seines Fortgangs ersparen. Und auch sich selbst, gab er zu. Wenn Valerie und Nalla wach gewesen wären, hätte er nicht die Kraft gefunden, sie zu verlassen.
Er beugte sich vor und gab Nalla einen Kuss auf die Stirn. Den letzten, den er ihr jemals würde geben können. Sein Herz stockte und einen Augenblick lang konnte er vor Schmerz nicht atmen. Dann wandte er sich Valerie zu und presste seine Lippen fest auf die ihren. Es wurde ein langer und verzweifelter Kuss. Und obwohl er wusste, dass das nicht möglich war, hätte er schwören können, dass sie den Kuss erwidert hatte.
John riss sich von ihr los und taumelte zur Tür. Noch bevor er sie erreicht hatte, schlug eine Welle des Schmerzes über ihm zusammen und er sank zu Boden. Valerie schien ihn wie ein Magnet anzuziehen, so dass er sich auf einmal nicht von ihr entfernen konnte. Mühsam stemmte John sich hoch. Er musste es tun. Für Valerie. Für Nalla. Ihm blieb keine Wahl.
So schnell er konnte, taumelte er hinaus, die Treppe hinunter und durch die Haustür in die kühle klare Luft, die von den ersten Sonnenstrahlen am Horizont erhellt wurde. Dann holte er seinen Scanner hervor. Als er ihn einschaltete, hatte er sofort ein klares Signal. Dieses Mal wollten sie gefunden werden. John warf einen letzten Blick auf das Haus, dann setzte er sich langsam in Bewegung.
Valerie erwachte von dem plötzlichen Gefühl des Verlustes. Irgendetwas, von dem sie nicht einmal gewusst hatte, dass es da gewesen war, war plötzlich fort. Eine vertraute, beruhigende Präsenz, die sie im Hinterkopf unbewusst immer gespürt hatte, war nicht mehr da. Und plötzlich fühlte sie sich allein und verletzlich. Schlaftrunken wollte sie sich an Johns großen warmen Körper kuscheln, damit er all ihre Ängste vertrieb, doch stattdessen fand sie nur Nallas
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