Seelengesaenge
versicherte dem Prinzen und dem Premierminister, daß keinerlei Invasion stattgefunden hatte.
Nichtsdestotrotz war die vollständige Mobilmachung der Miliz von Ramsey Island angeordnet worden. Truppen gruben sich rings um die Hauptstadt ein. Pläne wurden geschmiedet zur Befreiung der Inseln, die wie Kesteveen dem Feind bereits in die Hände gefallen waren.
Ivan Cantrell war zu einem entfernten Landeplatz auf dem Flughafen der Stadt dirigiert worden, und Soldaten hatten die Aeroambulanz in dem Augenblick umzingelt, als sie aufgesetzt hatte: nervöse Männer in schlechtsitzenden khakifarbenen Uniformen, die sich krampfhaft an ihren Vorderladern festhielten – Waffen, die schon zu Lebzeiten ihrer Großväter antik gewesen waren. Wenigstens fanden sich vereinzelt Marines der Konföderierten Navy unter ihnen, Männer in glatten, einteiligen Kampfanzügen, die wie eine Gummihaut aussahen, und mit stumpf glänzenden schwarzen Waffen, die definitiv nicht veraltet waren. Louise vermutete, daß ein einziger Schuß aus einem dieser stumpfen Läufe völlig ausreichte, um die Aeroambulanz zu vernichten.
Die Soldaten hatten sich sichtlich beruhigt, als Louise und ihre Schwester aus der Maschine gestiegen waren, gefolgt von Felicia Cantrell mit ihren beiden Töchtern. Der kommandierende Offizier, ein Captain namens Lester-Swindell, akzeptierte ihren Status als Flüchtlinge, doch es hatte weitere zwei Stunden ständiger Verhöre gedauert, bis man Louise gestattet hatte, Tante Celina anzurufen, damit sie vorbeikommen und für sie und Genevieve bürgen könnte. Louise hatte sich lange gegen den Gedanken gesträubt, doch diesmal war ihr kaum eine andere Wahl geblieben. Tante Celina war Mutters Schwester, wenngleich Louise nie begreifen konnte, daß die beiden so nah miteinander verwandt sein sollten. Die Frau besaß nicht eine Spur von Verstand, eine einfältige Kuh, die nichts anderes als Shopping und Feste im Kopf hatte. Doch Tante Celina war mit Jules Hewson verheiratet, dem Earl of Luffenham, und er war einer der ranghöchsten Berater am Hof des Prinzen. Wenn schon der Name Kavanagh hier auf Ramsey nicht das gleiche Gewicht besaß wie auf Kesteveen, dann galt das ganz gewiß nicht für den von Onkel Jules.
Zwei Minuten, nachdem Tante Celina aufgeregt wiehernd auf dem Revier eingetroffen war, wurden Louise und Genevieve nach draußen und in ihre Kutsche verfrachtet. Fletcher Christian, ein Tagelöhner, der uns bei der Flucht geholfen hat, Tante, wurde zusammen mit dem Fahrer auf den Kutschbock befohlen. Louise wollte zuerst protestieren, doch Fletcher hatte ihr heimlich zugezwinkert und sich tief vor Tante Celina verneigt.
Louise hatte endlich den Blick vom makellos blauen Himmel über Norwich abgewandt. Baifern House befand sich im Zentrum von Brompton, der exklusivsten Wohngegend in der gesamten Hauptstadt, auf einem riesigen eingezäunten Grundstück. Zwei Polizeibeamte hatten vor dem schweren eisernen Tor Wache gestanden, als sie am Abend des vergangenen Tages eingetroffen waren.
Sicher, zumindest für den Augenblick, sagte sie sich. Nur, daß sie einen der Besessenen direkt in das Herz der Hauptstadt mitgebracht hatte. In das Herz der Regierung von Norfolk sogar.
Doch Fletcher Christian war ihr Geheimnis, ihres und das ihrer Schwester Genevieve, und Genevieve würde niemandem etwas verraten. Es war eigenartig, doch inzwischen vertraute Louise diesem Mann. Er hatte bereits bewiesen, daß er sie vor den anderen Besessenen schützen konnte – und wollte. Und Louise ihrerseits wiederum war für Genevieves Schutz verantwortlich. Der Himmel wußte, daß die Polizei und die Miliz und die Konföderierte Navy sie nicht beschützen konnten, nicht gegen die Besessenen.
Louise ließ die Schultern hängen und ging durch das Zimmer, um die Vorhänge beiseite zu ziehen. Was soll ich als nächstes tun? Den Menschen die Wahrheit sagen über das, was sie erwartet? Ich kann mir gut vorstellen, was Onkel Jules darüber denken wird. Er wird glauben, ich sei hysterisch. Andererseits – wenn es ihnen niemand sagt, dann können sie sich niemals schützen. Nicht gegen einen Feind wie diesen.
Es war ein entsetzliches Dilemma. Wie hatte sie nur glauben können, daß ihre Probleme zu Ende seien, wenn sie nur erst die Sicherheit der Hauptstadt erreicht hatte? Daß man schon etwas unternehmen würde. Daß Mami und Daddy gerettet würden. Ein Schulmädchentraum, weiter nichts.
Carmithas Schrotflinte stand gegen das Bett gelehnt. Louise
Weitere Kostenlose Bücher