Seelengesaenge
nichts geschehen wird, nicht hier. Al heißt auch Nicht-Besessene in seiner Organisation willkommen, Kingsley. Sie haben einen ehrenvollen Platz. Und Sie haben es in Ihren Händen, Kingsley.«
Kingsley bemühte sich, das Bild zusammenzusetzen, das sich bei der Nennung des Namens Al in seinem Bewußtsein regte. Der junge Mann mit dem feisten Gesicht und dem merkwürdigen grauen Hut. »Ich, in meinen Händen?«
»Genau, Kingsley. Sie können für immer in Sicherheit sein, an einem Ort, wo sie niemals sterben müssen, niemals altern, niemals Schmerzen haben. Und Sie können ihnen dieses Geschenk machen.«
»Ich möchte sie sehen.«
»Das ließe sich einrichten.« Sie küßte seine Stirn, eine winzige Berührung mit trockenen Lippen. »Einen Tag lang. Falls Sie tun, was wir von Ihnen wollen, können Sie ganz zu Ihrer Familie zurückkehren, das versprechen ich. Nicht als Ihre Freundin, nicht als Ihr Feind, sondern von einem menschlichen Wesen zum anderen.«
»Wann? Wann kann ich sie sehen?«
»Langsam, Kingsley. Sie sind noch viel zu erschöpft. Schlafen Sie. Schlafen Sie all Ihre Angst weg. Und wenn Sie wieder wach werden, erfahren Sie von der wunderbaren Zukunft, die auf Sie wartet.«
Moyo beobachtete, wie Ralph Hiltch mit dem Mädchen auf dem Arm die Straße hinunter marschierte, die aus Exnall führte. Es war das klassische Bild des Helden, der seine Liebste rettete.
Die restlichen Soldaten in ihren Kampfanzügen sammelten sich um ihren Anführer, und wie ein Mann verschwanden sie von der Straße und in der Deckung unter den Bäumen. Nicht, daß die knorrigen Stämme des alten Waldes sie vor Moyo hätten verbergen können; Ralphs rasende Wut leuchtete wie eine Magnesiumfackel in der fremdartigen Wahrnehmung, an die sich Moyo gerade erst gewöhnte.
Die Wut des ESA-Mannes war von einer Art, die Moyo zutiefst beunruhigte. Die Entschlossenheit dahinter war überwältigend. Nach zwei Jahrhunderten der Gefangenschaft im Jenseits hatte Moyo angenommen, er wäre für immer immun gegen jede Art von Bedrohung. Das war der Grund, aus dem er mit Annette Eklund kooperiert hatte, ganz gleich, wie gefühllos ihre Pläne in den Augen der Lebenden auch sein mochten. Die Possession und die Rückkehr in ein Universum, aus dem er sich verbannt geglaubt hatte, veränderte die Sicht der Dinge, die er in seinem früheren Leben respektiert und in Ehren gehalten hatte – Moral, Ehre, Integrität. Und mit den Erfahrungen vom eigenen Tod und der Ewigkeit im Jenseits, die sein Denken kontaminierten, hatte er sich als unempfindlich, ja sogar immun gegen jede Furcht betrachtet. Hiltch ließ ihn an dieser neu gewonnenen Überzeugung und der damit einhergehenden Arroganz zweifeln. Vielleicht war Moyo dem Jenseits entkommen, doch frei zu bleiben war alles andere als garantiert.
Der Knabe, den Moyo vor sich festhielt, wand sich erneut in seinem Griff und fing verzweifelt an zu schreien, als Hiltch außer Sicht verschwand. Der ESA-Mann war seine letzte Hoffnung gewesen. Der Knabe war vielleicht zehn oder elf Jahre alt, und die Angst und das Entsetzen in seinem Kopf waren beinahe ansteckend, so deutlich spürte Moyo die Gefühle.
Nachdem Hiltchs Entschlossenheit seine Überzeugungen ins Wanken gebracht hatte, regten sich in Moyo Scham und Schuld über das, was er zu tun im Begriff stand. Das Flehen der Verlorenen Seelen aus dem Jenseits, das ununterbrochen in seinem Hinterkopf erklang, war schlimmer als jeder Entzug, jeder Kater, und es hörte niemals auf. Sie wollten das, was er hatte, das Licht und die Geräusche und die Gefühle, von denen es in diesem Universum so überreichlich viel gab. Sie versprachen ihm ewige Treue, wenn er ihr Flehen erfüllte. Sie schmeichelten ihm, sie waren hartnäckig, und sie drohten. Es würde niemals aufhören. Einhundert Millionen Kobolde, die gemeinsam wie mit einer Stimme von Verpflichtung und Dankesschuld redeten; einer Stimme, die weit lauter ertönte als sein lautestes Rufen.
Er hatte keine andere Wahl. Solange die Lebenden nicht besessen waren, würden sie gegen ihn kämpfen und versuchen, ihn wieder zurück in das Jenseits zu werfen. Solange im Jenseits Verlorene Seelen wohnten, würden sie ihn anflehen, ihnen Körper zu geben. Die Gleichung war so schrecklich einfach, zwei Kräfte, die sich gegenseitig aufhoben. Vorausgesetzt, er gehorchte.
Seine Wiedergeburt war gerade erst einige Stunden her, und bereits jetzt war ihm ein unabhängiges Schicksal verwehrt.
»Seht ihr jetzt, was wir erreichen
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