Seelengesaenge
Sirenen von Streifenwagen, die über die Maingreen herbeigerast waren. Lautsprecher, die eine Warnung verkündeten.
Flehen und Drohungen. Merkwürdige, monotone Schläge. Berstendes Glas.
Es war schrecklich gewesen. Sie gehörte nach draußen, wo sie alles mit ansehen und aufnehmen konnte.
Nach dem Aufstand – oder was auch immer es war – hatte sich eine unheimliche Stille ausgebreitet. Finnuala war fast in den Schlaf hinübergedämmert, als sich die Zellentür schließlich öffnete.
»Das wurde aber auch wirklich verdammt noch mal Zeit!« schimpfte sie. Der Rest ihrer Schimpftirade erstarb in ihrer Kehle.
Eine riesige Mumie schlurfte mühsam in ihre Zelle, die Bandagen ein staubiges Braun, und von den Händen troff limonengrüner eitriger Schleim. Die Mumie hatte Neville Lathams makellose Schirmmütze auf dem Kopf. »Tut mir wirklich außerordentlich leid, daß wir Sie so lange warten lassen mußten«, entschuldigte sie sich schroff.
Colonel Palmers Kommandooffiziere berichteten Ralph und seinem Aufklärungstrupp von der Frau, als sie im Begriff standen, Exnall zu betreten. Die Datavis-Bandbreite wurde von dem inzwischen bekannten elektronischen Störfeld stark eingeengt, so daß nur die grundlegendsten Kommunikationsfunktionen zur Verfügung standen. Eine Sens-O-Vis-Übertragung stand nicht zur Diskussion, nicht einmal eine visuelle Verbindung, deswegen mußten sie sich auf eine verbale Beschreibung verlassen.
Soweit es die Beobachtungssatelliten der strategischen Verteidigung betraf, hatte sich die gesamte Bevölkerung der Stadt in die Häuser zurückgezogen. Vorher hatten zahlreiche Bewegungen unter dem Dach aus Harandridenbäumen stattgefunden, verschwommene infrarote Flecken, die scheinbar willkürlich umhergeirrt waren. Dann, als die Dämmerung heraufgestiegen war, waren selbst diese verräterischen Spuren verschwunden. Das einzige, was sich in Exnall jetzt noch bewegte, waren die Baumwipfel, die sich sanft im ersten morgendlichen Wind wiegten. Hausdächer und ganze Straßenzüge erschienen verschwommen, als tröpfelte ein feiner Sprühregen auf die Linsen des Satelliten. Im optischen Bereich war die Stadt nicht mehr zu erkunden, mit Ausnahme einer einzelnen kreisförmigen Fläche, fünfzehn Meter im Durchmesser, vor einem Restaurant an der Zufahrtsstraße zur Nummer sechs. Und genau in der Mitte dieses Kreises stand die Frau.
»Sie steht einfach nur da«, berichtete Janne Palmer per Datavis. »Und sie steht so, daß sie jeden sehen kann, der sich entlang dem Zubringer der Stadt nähert.«
»Irgendwelche erkennbaren Waffen?« fragte Ralph, der zusammen mit seinen G66ern und dem zwölf Mann starken Platoon, das Palmer ihm zugewiesen hatte, hundert Meter vor den ersten Häusern am Straßenrand in Deckung gegangen war. Sie benutzten eine niedrige Böschung als Schutz, während sie sich vorsichtig der Stadt näherten.
Ralphs Schädel klingelte, als litte er an einer mentalen Version von Tinnitus, was er den Stimulanzien zuschrieb. Nach lediglich zwei Stunden Schlaf im Verlauf der letzten sechsunddreißig Stunden benötigte er chemische Stimulanzien und neurale Software, um auf den Beinen zu bleiben. Doch er konnte sich nicht leisten, jetzt unachtsam zu werden. Nicht jetzt.
»Definitiv nicht«, antwortete Janne Palmer. »Zumindest jedenfalls keine schweren Waffen. Sie trägt eine Jacke, und sie könnte eine kleine Handfeuerwaffe darin verborgen haben.«
»Nicht, daß es einen Unterschied machen würde, falls sie besessen ist. Bis jetzt haben wir noch keinen Besessenen gesehen, der eine Waffe benutzt hätte.«
»Wahrscheinlich haben Sie recht.«
»Eine dumme Frage: Lebt sie?«
»Ja. Wir können sehen, wie sich ihre Brust im Atemrhythmus hebt und senkt, und ihre infrarote Signatur ist optimal.«
»Glauben Sie, daß es sich um eine Art Köder handeln könnte?«
»Nein, das wäre zu offensichtlich. Ich würde eher sagen, sie hält Wache – obwohl der Gegner wissen muß, daß wir hier sind. Es hat mehrere kleinere Gefechte gegeben, als wir die Stadt eingekesselt haben.«
»Verdammt, wollen Sie damit andeuten, die Besessenen streifen frei durch die Wälder?«
»Ich fürchte ja, Ralph. Was bedeutet, daß ich nicht imstande bin zu bestätigen, daß wir alle Besessenen in der Stadt eingeschlossen haben. Ich habe Admiral Farquar gebeten, mir weitere Truppen zu senden, damit ich die Umgebung absuchen kann. Meine Bitte liegt in diesem Augenblick dem Sicherheitsrat zur Entscheidung vor.«
Ralph
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