Seelengift
Regalen, vollgestellt mit weiteren Schachteln. Sie schüttelte den Kopf. »Sei kein Frosch, Clara!«, ermahnte sie sich selbst, wie früher, als sie noch ein Kind gewesen war und zitternd vor Kälte und Angst auf dem Fünfmeterturm gestanden hatte, unfähig, sich zu entscheiden, was schlimmer war: hinunterzuspringen oder die schmale, rutschige Leiter wieder hinunterzuklettern, mitten ins Gespött der Jungs aus ihrer Klasse. Damals war sie gesprungen, und sie würde auch heute springen. Und ohne sich noch einen Zweifel oder ein Zögern zu erlauben, betrat sie den Laden.
Das erste, was ihr auffiel, war der Geruch: ein sehr sauberer, angenehmer Duft nach Zitrone, vermischt mit dem trockenen Geruch nach Papier und Klebstoff. Das war unerwartet, und obwohl sie wusste, dass dies nichts zu bedeuten hatte,
beruhigte es sie augenblicklich. Aus irgendeinem Grund hatte sie muffige, abgestandene Luft und den Geruch nach altem Staub und ungewischten Böden erwartet. Der Laden war leer, und die Türglocke hallte schrill in Claras Ohren. Sie blieb nahe der Tür stehen und wartete. Aus einem Raum im hinteren Teil des Ladens hörte sie das Rauschen eines Wasserhahns und eine Männerstimme, die rief: »Ich komme gleich!«
Clara ging ein paar Schritte in den Raum hinein und sah sich dabei ein wenig um. Links von der Tür stand ein spiegelblanker Tresen mit einer Glasvitrine, in der eine winzige Modelleisenbahn ihre Kreise um einen Miniaturberg fuhr. Clara bückte sich, um sie genauer betrachten zu können. So eine kleine Eisenbahn hatte sie noch nie gesehen. Alles war perfekt, naturgetreu und so klein, dass sie manche Details mit dem bloßen Auge kaum erkennen konnte. Es gab einen erstarrten, glitzernden Wasserfall, Bäume, eine Berghütte und einen Tunnel, aus dem die kleine Bahn Runde um Runde heraussauste, emsig und lautlos.
»Wunderschön, nicht?«
Die Stimme ließ sie hochschrecken. Der Mann war unbemerkt aus seinem Hinterzimmer gekommen und stand jetzt neben ihr vor der Vitrine. Sie richtete sich hastig auf.
»Aber das ist nichts für Kinder, falls …«, begann der Mann und stoppte dann abrupt.
Clara sah ihn an, und alles Blut wich ihr aus dem Gesicht. Schlagartig war ihr klar, dass sie die ganze Zeit recht gehabt hatte. Josef Gerlach war ein großer, etwas ungeschlachter Mann etwa Anfang, Mitte fünfzig, glattrasiert, mit hellen Augen und sorgfältig gescheiteltem, mausbraunem Haar. Er trug dünne Baumwollhandschuhe. Es überlief sie kalt: Sie kannte ihn. Längst schon. In ihrem Kopf spulten sich Bilder ab, wie in einem Superachtfilm, den man zu schnell laufen
ließ, und plötzlich sah sie Zusammenhänge, die sie vorher nicht gesehen hatte: Der Spaziergänger in der Unterführung auf dem Weg zum Tatort, an dem Tag, an dem sie zum ersten Mal dort gewesen war. Der Mann neben ihr in Ritas Café, als sie mit Willi über den Fall gesprochen hatte und der trotz der Wärme im Café Handschuhe getragen hatte. Und schließlich der Mann an der Böschung, heute Morgen nach der Beerdigung, der zu ihr heruntergesehen hatte, als sie dort unten am Fundort der Leiche herumgeklettert war. Sie alle hatten die gleiche, leicht vorn übergeneigte Haltung gehabt wie dieser Mann vor ihr, die Art, schlaff die Arme hängen zu lassen, so als seien sie nicht Teil seines Körpers. Und bei Rita hatte sie ihn von Angesicht zu Angesicht gesehen. Hatte in seine Augen geblickt, die hell wie Wasser waren und die sie damals schon irgendwie irritiert hatten. Sie wirkten einerseits vollkommen ausdruckslos, andererseits aber schien dahinter ein Sturm zu toben, der verzweifelt einen Weg hinaus suchte. In diese Augen blickte sie jetzt, und sie starrten zurück und ließen erkennen, dass es Josef Gerlach genauso ging wie ihr: Er hatte sie ebenfalls erkannt. Er wusste, wer sie war und was sie wollte.
Ihr Mund wurde trocken, und sie sah sich nach einer Möglichkeit um, den Laden so schnell wie möglich zu verlassen. Doch Josef Gerlach stand zwischen ihr und der Tür. Draußen gingen Leute vorbei, zwischen den Regalen im Schaufenster konnte Clara Schemen erkennen und den Kopf einer Frau. Sie öffnete den Mund, wollte etwas sagen, doch es kam nur ein Krächzen heraus. Sie murmelte etwas Lächerliches, das etwa wie: »Habe mich getäuscht« klang, und machte einen Schritt nach rechts an Josef Gerlach vorbei auf die Tür zu. Doch er war schneller. Er hatte sie am Arm gepackt, noch ehe sie den Schritt vollenden konnte.
»Warum lasst ihr mich nicht in Ruhe?«,
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