Seelengift
Vorsichtshalber. Es war zu dumm gewesen, dass ausgerechnet in dem Moment,
in dem die Frau das Bewusstsein verloren hatte, noch ein Kunde gekommen war. Gott sei Dank war seine Türglocke laut genug, dass er sie durch die geschlossene Tür hatte hören können. Sonst wäre der Kunde - ein Stammkunde, der seit Jahren kam und ihn gut kannte - womöglich noch in die Teeküche gekommen. Ihm wurde jetzt noch heiß bei dem Gedanken.
Er hatte gar nicht genau gewusst, ob die Frau schon tot war, als er die Klingel gehört hatte. Sie rührte sich jedenfalls nicht mehr. Schnell war er aufgestanden und hinaus in den Laden gegangen. Er hatte sie einfach dort liegen gelassen. Das war riskant gewesen. Sehr riskant. Zum Glück war der Kunde nicht lange geblieben, hatte nur nach einer Bestellung gefragt. Die Ware war schon längst dagewesen, doch Gerlach hatte den Mann angelogen und gesagt, sie komme erst am Montag. Als der Mann wieder gegangen war, hatte Gerlach schnell hinter ihm zugesperrt, fast eine Stunde vor Ladenschluss, aber das ließ sich nun einmal nicht ändern. Als er zurück in die Teeküche kam, lag die Frau noch immer reglos am gleichen Fleck zwischen dem Waschbecken und dem Tisch. Aber sie atmete noch. Er war ein paar Minuten lang unschlüssig dagestanden und hatte sie nur angesehen. Es war unverzeihlich, dass er sie nicht gleich getötet hatte. Es würde ihn in Schwierigkeiten bringen. Doch jetzt, nachdem sein Zorn verraucht war, konnte er es nicht mehr tun.
ER KONNTE ES NICHT MEHR TUN!
Er war in die Knie gegangen, hatte seine Finger an ihren Hals gelegt und ihren Herzschlag gespürt. Es wäre ein Leichtes gewesen, noch einmal zuzudrücken. Ungestört dieses Mal. Oder er hätte ihr das dünne Stuhlkissen auf das Gesicht drücken können, so lange, bis sie nicht mehr geatmet hätte. Doch er war nur dagestanden und hatte sie angesehen. Ihre
roten Haare, wirr und dicht, wie ein Wald im Herbst. Den dicken schwarzen Wollmantel, den sie auf der Beerdigung am Morgen auch schon getragen hatte, und die merkwürdigen Schuhe: Arbeitsstiefel mit stabilen Kappen und tiefem Profil, die ihr weit über die Knöchel reichten. Sie war ziemlich klein, und wie sie so dalag auf dem Boden seiner Teeküche, sah sie gar nicht mehr so gefährlich aus. Er war einfach dagestanden und hatte sie angesehen. Und dann war sie aufgewacht.
Was hätte er machen sollen? Sie einfach laufen lassen? Vollkommen unmöglich. Sie würde wiederkommen, mit Gruber und vielen Beamten, oder sie würden ihr perfides Katz-und-Maus-Spiel weiterspielen, so lange, wie es ihnen gefiel, und dann, irgendwann, würden sie ihn packen und einsperren, und er würde in einer Zelle hocken und verrotten …
Verrotten war ein Wort, das seine Mutter häufig benutzt hatte. Sie las morgens immer die Zeitung, und wenn sie etwas besonders Schlimmes las, was jemand getan hatte, rief sie oft aus: »Man sollte ihn einsperren und verrotten lassen!« Er hatte sich das als Junge immer besonders gruselig vorgestellt, wenn jemand verrottete. Er sah einen Verbrecher vor sich, mit bösem Vollbart, schmutzig und stinkend, wie er in einer modrigen Zelle saß und langsam verrottete. Zuerst wurde er braun, wie alte, feuchte Blätter in dunklen Hinterhofecken, die vom Herbst noch übriggeblieben waren und unter denen meistens Kellerasseln wohnten. Dann zerbröckelte er langsam, ein fauliges Ohr fiel ihm ab, ein Arm, die Haare und der Bart begannen zu schimmeln, zwischen seinen nackten Zehen wuchsen Pilze. So hatte er sich das vorgestellt mit dem Verrotten.
Was hätte er tun sollen mit dieser Frau? Er stellte sich die Frage ein zweites Mal, während er die Straße entlangfuhr, in der sich sein Laden befand. Alles war dunkel, die Rollläden
heruntergezogen, sein Geschäft sah aus wie immer. Er fuhr weiter und bog um die Ecke und blieb vor dem roten Eisengitter stehen, das die Einfahrt zum Hinterhof versperrte. Er stieg rasch aus, sperrte auf und fuhr dann langsam hinein. Dort gab es einen Lieferanteneingang zum Lager und eine rückwärtige Tür zu seinem Laden. Das war sehr praktisch. Er parkte mit dem Kofferraum direkt an der Tür und stieg aus. Er überlegte, ob er die Plane mitnehmen sollte. Vielleicht war sie ja in der Zwischenzeit gestorben. Manchmal passierte so etwas. Ein Asthmaanfall oder ein Blutgerinnsel von seinem Schlag. Vielleicht hatte sie keine Luft bekommen, hatte sich übergeben müssen, war erstickt? Manchmal passierte so etwas. Er beschloss, die Plane noch im Auto zu lassen. Man
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