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Seelengift

Titel: Seelengift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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hatte, sah man, was sich dahinter verbarg, ob man wollte oder nicht. Er hörte wieder das Knirschen, als der Plastikjunge unter ihren Schuhen zerbrach, und er spürte wieder die hilflose Angst von damals.
    »Steh auf.« Ihre Stimme war so kühl und unbeteiligt, dass man auf das Schlimmste gefasst sein musste. Seine Mutter schrie nicht. Niemals. Sie fasste ihn auch nie grob an. Niemals würde sie ihn schlagen. Sie war eine gute Mutter. Er stand auf. Die Spielsachen in seiner Hose drückten und pieksten ihn. Sie befahl ihm, in die Küche zu gehen. Dort öffnete sie den Schrank unter der Spüle und holte den Mülleimer heraus. Er war ziemlich voll, Reste des Mittagessens waren darin, Wollmäuse, ein verklebtes Knäuel Haare, ein schmieriger Joghurtdeckel, auf dem Brotkrümel und ein undefinierbarer brauner Klumpen klebten. Es stank. Sie befahl ihm, seine Hose auszuziehen. Er öffnete die Riegel seiner Träger, das
ging schwer, immer hatte er Schwierigkeiten mit diesen Riegeln, seine Finger waren zu ungeschickt. Jetzt waren sie auch noch feucht und rutschten immer wieder von den Metallbügeln ab. Endlich konnte er einen der Träger lösen. Er streifte den anderen Träger ab, ohne ihn zu öffnen, und kletterte aus der Hose. Die Spielsachen, die er vorne in den Latz gesteckt hatte, fielen zu Boden. Es schepperte ein bisschen, aber nicht sehr.
    »Du weißt, was du zu tun hast«, sagte seine Mutter. Es war keine Frage. Trotzdem nickte er. Er hatte etwas getan, obwohl er gewusst hatte, dass es verboten war. Das war böse. Er verdiente die Strafe. Und so begann er, seine Spielsachen aus den Taschen seiner Hose zu fingern, sie vom Boden aufzuklauben, eine nach der anderen, und in den stinkenden Mülleimer zu werfen. Seine Indianer, die beiden scheckigen Pferde, die kleinen Autos. Seine Mutter stand daneben und sah ihm schweigend zu. Als er fertig war, nahm sie die Tüte aus dem Eimer und knotete sie zusammen. »Wirst du jetzt wieder ein braver Junge sein?«, fragte sie. Er nickte und starrte auf seine Füße, die in dunkelblauen Socken steckten. Sie strich ihm über den Kopf und schickte ihn in sein Zimmer. Dort saß er auf seinem Bett und hörte, wie sie nach unten ging, um den Müll wegzuwerfen. Seine Krimskramskiste stand neben ihm, und die wenigen Spielsachen, die er nicht herausgenommen hatte, weil sie entweder kaputt waren oder er sie nicht so gerne mochte, starrten ihn vorwurfvoll an. Er versetzte der Kiste einen groben Tritt, und sie rutschte unter das Bett. Dort blieb sie, unberührt, bis seine Mutter sie ein paar Jahre später mit dem Besen hervorholte und auch noch den Rest wegwarf, weil er zu dem Zeitpunkt schon ein großer Junge geworden war.

    Josef Gerlach starrte in die Dunkelheit. Warum hatte er sich an diese Geschichte nicht mehr erinnert? Warum hatte er geglaubt, das alles sei nur ein Traum gewesen? Und warum erinnerte er sich jetzt? Er warf einen Blick auf die Uhr. Halb vier. Plötzlich fuhr er zusammen. Er hatte den Wecker nicht gehört. Die Frau! Sie lag noch in seinem Laden. Und am Samstagvormittag kam die Putzfrau. Er hatte nicht zu Bett gehen wollen, nicht einschlafen wollen, aus Angst zu verschlafen, doch dann war er doch ins Bett gegangen und hatte den Wecker auf drei Uhr gestellt. Er musste in den Laden. Sofort.
    Er sprang aus dem Bett und schlüpfte in seine Kleider, die er ordentlich auf den Stuhl neben dem Bett gelegt hatte. Es dauerte keine zwei Minuten. Sein Auto stand unten direkt vor der Tür. Er benötigte weitere zwei Minuten, um die Scheiben vom Schnee zu befreien. Die Luft war so trocken, dass der Schnee gar nicht angefroren war, sondern leicht wie Staub davonwehte, als er mit dem Handfeger darüberstrich. Trotzdem nahm er sich die Zeit, jede Scheibe ordentlich zu säubern. Nicht auszudenken, was passierte, wenn er aufgehalten wurde, weil die Scheiben nicht frei waren, oder irgendwo gegen etwas fuhr, weil er in der Sicht behindert war. Vorsichtig fuhr er los. Die Straßen waren menschenleer. Halb vier war eine gute Zeit, um möglichst ungesehen durch die Stadt zu fahren, und der Schneefall tat sein Übriges. Die Städter waren ja ziemlich verweichlicht, was Schnee anbelangte, und schon ein paar Zentimeter führten dazu, dass viele das Auto lieber stehen ließen, vor allem nachts. Sein Glück. Und er musste nicht weit fahren. Seine Wohnung lag nur fünf Minuten vom Laden entfernt, das war perfekt.
    Noch am Abend hatte er eine große Plane aus dem Keller geholt und in den Kofferraum gelegt.

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