Seelengift
verlassen können. Immer. Sie musste es auch jetzt tun. Jetzt besonders, da niemand sonst an Gruber zu glauben schien. Sie musste diese Tür schließen, die sich so plötzlich in ihr aufgetan und die giftigen Zweifel hereingelassen hatte. Wenn sie jetzt nichts unternahm, würde Gruber am Montag wieder in Untersuchungshaft sitzen, und es würde unmöglich sein, ihn vor der Verhandlung auf freien Fuß zu bekommen. Und wie dann der Prozess ausgehen mochte, daran wollte sie gar nicht denken.
Sie kramte in ihrer Tasche und zog ihre Zigarettenschachtel heraus. Es war zu kalt, um im Freien zu rauchen, und es war auch zu ungemütlich. Doch das war ihr egal. Sie beschleunigte ihren Schritt, ließ den Marienplatz mit den vielen verfrorenen Touristen hinter sich und ging in Richtung Odeonsplatz. Es schneite noch immer heftig, und Clara zog den Kopf ein. Ihre dichten Locken, die sich immer wieder unter ihrer Mütze herausdrängten, waren klitschnass, und an ihren Wimpern schmolzen die Schneeflocken zu kleinen Tropfen, die bei jedem Zwinkern an ihren Wangen hinunterliefen. Dann hatte sie den Odeonsplatz erreicht. Sie ließ die Theatinerkirche links liegen und kletterte die Stufen der Feldherrnhalle hinauf, eines ihrer Lieblingsplätze. In der kleinen überdachten Einkaufspassage neben der Kirche hatte ein wahrlich unerschrockener Musiker sein Instrument aufgebaut, ein riesiges Vibraphon mit langen Klangröhren, auf dem er trotz des Schneegestöbers unermüdlich und äußerst virtuos spielte. Niemand blieb stehen und hörte ihm zu, alle hatten es eilig, in die stickig warme Abluft des U-Bahnhofs zu kommen. Obwohl sie ihn jetzt von ihrem Platz zwischen den Löwen der Feldherrnhalle nicht sehen konnte, war es, als spielte er für Clara allein. Sie rauchte und hörte ihm zu. Er spielte schön, und der ungewohnte Klang dieses Instruments inmitten des ungewöhnlich heftigen Schneetreibens war seltsam und betörend. Clara sah die schnurgerade Prachtstraße hinunter, das Siegestor war im Schneewirbel kaum mehr zu erkennen, und sie fasste einen Entschluss.
ZWEIUNDZWANZIG
Als Clara vor dem kleinen Geschäft mit dem unscheinbaren Auslagenfenster stand, kamen ihr noch einmal Zweifel daran, ob diese Entscheidung wirklich so klug gewesen war. Doch gleichzeitig wusste sie, dass Zweifel nichts an ihrem Entschluss ändern würden. Sie konnte jetzt nicht einfach nach Hause gehen und auf Montag warten. Sie stand praktisch mitten auf der Münchener Freiheit. Hinter den Bäumen auf der anderen Straßenseite zweigte der Verkehr von der Leopoldstraße in die Ungererstraße ab, und einen Steinwurf nach links befanden sich Cafés, Geschäfte, die U-Bahn. Alles vollkommen harmlos. Über dem Laden stand auf einem weißen Leuchtschild in schräger Druckschrift Bockelmann Modelleisenbahnen , und drinnen brannte Licht.
»Ich werfe nur einen Blick rein«, beruhigte sie ihre aufgekratzten Nerven. »Nur einen kurzen Blick.« Was sie sich davon erhoffte, ließ sich nicht genau beschreiben. Ihr Hauptbeweggrund war wahrscheinlich das Bedürfnis, sich zu vergewissern, dass ihre Theorie kein Hirngespinst war. Sie war bereits erleichtert gewesen, dass der Laden tatsächlich existierte und nicht längst geschlossen oder sonst wohin verzogen war. Sie wollte Josef Gerlach sehen. Von Angesicht zu Angesicht. Vielleicht würde ihr das die Gewissheit geben, die sie brauchte.
»Nur ein kurzer Blick durch das Fenster. Ich brauche nicht einmal hineinzugehen«, lockte sie sich selbst und ballte die
Hände in ihrer Manteltasche zur Faust. Sie ging ein paar Schritte näher und betrachtete die Auslage. Sie bestand aus nichts weiter als einer kleinen Stellfläche direkt an der Scheibe, auf der ein großes Modell eines modernen ICEs stand, und einem übermannshohen Regal dahinter, das mit Waren - akribisch nach Größen geordnet - vollgestellt war und so den Blick nach innen weitgehend versperrte. Waggons, Schienen, Modellbausätze für Häuser oder ganze Straßenzüge, vor allem aber Lokomotiven in verschiedenen Größen und Ausführungen. Clara musterte die Auswahl genau und entdeckte nach einigem Suchen auch das Modell, das sie im Garten gegenüber Irmgard Grubers Haus gefunden hatte. 69281 Dampflok BR 03.10 Blaue Mauritius stand auf der Verpackung und daneben ein leuchtend gelber Aufkleber: Lok des Monats: Aktionspreis!
Sie versuchte, durch das Regal hindurch einen Blick auf das Innere des Ladens zu erhaschen, doch vergeblich. Sie konnte nichts sehen außer weiteren
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