Seelengift
sich im Grunde auch als Sackgasse erwiesen, nachdem Gruber nicht wusste, was sie zu bedeuten hatte.
Clara rieb sich ihre eiskalten Hände. Sie wollte nicht weiterdenken. Es war klar, worauf das hinauslief, und das wollte sie nicht. Sie rieb sich über ihr Gesicht, schüttelte den Kopf und flüsterte: »Nein. Das kann nicht sein!« Aber der Gedanke ließ sich nicht mehr vertreiben. Er war die ganze Zeit schon dagewesen, hatte nur auf den entscheidenden Moment gewartet, um sie so hart wie möglich zu treffen: Wenn man alles auf diese Weise zu Ende dachte, bedeutete es, konnte es bedeuten, war es möglich, dass Gruber sie die ganze Zeit angelogen hatte. »Nein!«, flüsterte sie abermals. »Nein!« Solche Gedanken durfte sie gar nicht haben. Sie vertraute Walter Gruber. Und dann war da ja noch der anonyme Brief, wer sollte den denn geschrieben haben? Eine boshafte Stimme in ihr flüsterte: Warum nicht Gruber selbst? Er benutzt dich, um von sich abzulenken.
»Quatsch!«, rief Clara so laut, dass sich einige Passanten neugierig zu ihr umdrehten. So gemein konnte er doch nicht sein. »Nicht Gruber! Nein, nicht Gruber, auf keinen Fall.« Sie verstummte, als ihr auffiel, dass sie vor dem Schaufenster eines Kaufhauses stand und mit ihrem Spiegelbild sprach. Die Leute mussten sie für verrückt halten. Sie ging mit gesenktem
Kopf weiter und führte ihr Zwiegespräch in Gedanken fort: Natürlich hatte Gruber diesen Brief nicht geschrieben! Und das bewies eindeutig, dass er auch seine Frau nicht getötet hatte, denn dann musste es noch eine dritte Person geben. Sie nickte. Ja. Genau. Sie hatte sich von dieser dummen Polizistin schwindelig reden lassen. Gruber war es nicht gewesen. Sicher nicht.
Doch der Zweifel, einmal gesät, blieb bestehen: Die meisten Gewalttaten ereigneten sich innerhalb der Familie oder zwischen Opfern und Tätern, die sich kannten. Gruber hatte als bisher einziger Verdächtiger weit und breit ein denkbares Motiv, er war am Tatort, hatte die beste Gelegenheit und kein Alibi. Der Versuch, durch den Hinweis auf den Fundort der Leiche den Mord an seiner Frau mit dem Fall Gerlinde Ostmann in Verbindung zu bringen, machte Gruber im Grunde noch mehr verdächtig, als dass es ihn entlastete. Wenn man nur die harten Fakten betrachtete und alle Interpretationen außer Acht ließ, deutete sehr viel auf Gruber und fast nichts auf einen fremden Täter. Sogar die Sache mit dem Morgenmantel konnte man in einer Verhandlung als ein Indiz ansehen, das Gruber belastete, anstatt ihn zu entlasten: Er hatte ihn ihr absichtlich ausgezogen, um es genauso aussehen zu lassen wie bei Gerlinde Ostmann. Und nur Gruber, niemand seiner Kollegen, hatte diese beiden Fälle miteinander in Verbindung gebracht.
Aber war es möglich, dass sich Clara so in Walter Gruber getäuscht hatte? Seine unglaublich beherrschte Art, wie er Adolf Wimbacher gegenübergesessen hatte, kam ihr wieder in den Sinn. Es war ihr fast unheimlich gewesen zu sehen, wie gut er in der Lage war, seine Gefühle zu verbergen. Und dann sein versteinertes Gesicht heute bei der Beerdigung. Seine so offensichtliche Unfähigkeit, mit seinem Sohn zu sprechen.
Lag es etwa daran, dass er sich schuldig fühlte? Schuldig war? Wenn Gruber tatsächlich seine Frau umgebracht hatte, wenn er fähig gewesen war, danach noch so kühl und überlegt zu handeln und sie wegzuschaffen, wenn er fähig gewesen war, sich so zu verhalten, dass Clara keinerlei Verdacht geschöpft hatte, dann war er sicher auch in der Lage gewesen, ihr einen anonymen Brief zu schreiben.
Clara biss sich auf die Lippen. Sie waren eiskalt. Jetzt bereute sie es, dass sie ihm die Todesanzeige nicht gezeigt hatte. Vielleicht hätte seine Reaktion ihr irgendetwas verraten. Plötzlich wurde ihr noch kälter, als ihr ohnehin schon war. An dem Abend, an dem der Brief gekommen war, hatte Gruber sie angerufen und ihr von der Todesanzeige für seine Frau und der Beerdigung erzählt. Warum hatte er das getan? Er hatte sie noch nie zu Hause angerufen. Er hatte sich dafür extra ihre Privatnummer geben lassen. Dabei hätte der Anruf doch Zeit bis zum nächsten Tag gehabt. Hatte er wissen wollen, wie sie auf den Brief reagiert hatte? War das der Grund seines Anrufs gewesen?
Clara schüttelte wieder den Kopf. So ging das nicht weiter. Sie musste damit aufhören, sonst würde sie noch verrückt. Sie wusste, dass Gruber unschuldig war. Ganz tief in ihrem Innersten wusste sie es, und sie hatte sich bisher immer auf dieses Gefühl
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