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Seelengift

Titel: Seelengift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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fragte er leise, und in seinen Augen lag Verzweiflung.
    »Lassen Sie mich los!« Clara spürte, wie Panik von ihr Besitz ergriff, und versuchte, sich loszureißen, doch sein Griff war unnachgiebig. Nur ein halber Meter trennte sie von der Ladentür. Wenn es ihr gelang, sie aufzureißen und zu schreien …
    Josef Gerlach hatte offenbar den gleichen Gedanken. Mit einer abrupten Bewegung riss er sie an sich und hielt ihr den Mund zu. Clara verlor das Gleichgewicht und wäre gefallen, wenn er sie nicht mit der anderen Hand festgehalten hätte. Er zerrte sie rückwärts in den kleinen Raum hinter der Theke. Dort ließ er sie so unvermittelt los, dass Clara schwankte.
    »Warum lasst ihr mich nicht in Ruhe?«, heulte er und starrte sie aus wilden Augen an. »Warum könnt ihr mich nicht einfach in Frieden lassen?« Er schlug die Hände vors Gesicht und ließ sich mit dem Rücken zur Tür auf die Knie sinken.
    »Lassen Sie mich gehen«, sagte Clara und versuchte, ihrer Stimme einen festen, vertrauenerweckenden Ton zu geben. Doch sie zitterte so stark, dass es nur kläglich klang. »Ich werde Sie in Ruhe lassen, das verspreche ich.«
    »LÜGE!« Josef Gerlach sprang blitzschnell auf die Beine und schlug Clara mit aller Wucht ins Gesicht.
    Sie taumelte gegen das Waschbecken, krallte sich an der glatten, weißen Emaille fest und keuchte. Blut floss aus Nase und Mund und vermischte sich mit den Wassertropfen im Waschbecken zu leuchtend roten Rinnsalen.
    »Bitte!«, flüsterte sie und fühlte, wie ihre Unterlippe anschwoll. »Lassen Sie mich gehen!«
    Josef Gerlach stand jetzt so nahe vor ihr, dass sie ihn riechen konnte. Er roch genauso sauber wie sein Laden. Seine dunkelbraune Stoffhose hatte eine tadellose Bügelfalte, und
seine robusten braunen Winterschuhe glänzten frisch poliert. Sie hob mühsam den Kopf und sah ihm ins Gesicht. Trotz seiner Größe wirkte er wie ein tief verletztes Kind.
    »Immer nur Lügen«, sagte er traurig, und dann schlug er noch einmal zu, aus nächster Nähe.
    Claras Hand ließ das Waschbecken los, sie stürzte nach hinten und fiel schwer zu Boden. Blitze zuckten in ihren Augenwinkeln, als sie versuchte, sich aufzurichten. Doch Josef Gerlach war bereits über ihr. Er starrte ihr in die Augen, drängend, fast flehend, als erwarte er etwas von ihr. Clara versuchte, seinen Blick zu erwidern, versuchte, aus ihm herauszulesen, was er von ihr erwartete, was die richtige Antwort auf die unbekannte Frage war, doch sie konnte nichts sehen. Die Bilder verschwammen vor ihren Augen, und das Zimmer begann sich zu drehen. Ihr Mund war voller Blut, es rann ihre Kehle hinunter, und sie musste husten. In dem Moment schlossen sich seine Hände um ihren Hals. Warme Hände, schoss es Clara durch den Kopf, man spürt die Wärme trotz der Handschuhe. Dann drückte er zu. Sie schnappte vergeblich nach Luft, immer wieder, ihr Körper weigerte sich zu glauben, dass die Luftzufuhr abgeschnitten war. Sie fühlte, wie sich das Blut in ihrem Kopf zu stauen begann, ihr Mund blieb offen, hörte auf zu schnappen, sie verkrampfte sich, hörte die Absätze ihrer Schuhe über den Boden scharren, es gab ein quietschendes Geräusch, dann wurde es schwarz vor ihren Augen. Sie hörte irgendwo in ihrem Kopf ein Klingeln, schrill und drängend, als wolle es ihr noch etwas sagen, dann war Stille.

    Er träumte. Er träumte wieder denselben Traum aus seiner Kindheit. Der Teppich im Wohnzimmer, die Spielsachen, vor ihm stand seine Mutter, er konnte nur ihre Beine sehen, hielt
den Kopf gesenkt, saß auf dem Boden, ganz klein, vor ihm die Beine seiner Mutter in Seidenstrümpfen, ihre Füße steckten in roten Schuhen. Ein dunkles, warmes Rot wie getrocknetes Blut, und vorne an der Spitze waren sie schwarz und glänzend, wie in Pech getaucht. Er zitterte. Und wachte auf. Still blieb er liegen und wartete, bis die Eindrücke aus dem Traum verblassten. Doch sie wollten nicht verschwinden. Sie klopften und hämmerten weiter in seinem Kopf. Plötzlich durchfuhr ihn eine Erkenntnis, wie ein Blitzschlag, kurz und heftig, und ihm wurde schlagartig klar, warum er diesen Traum hatte: Weil es nicht nur ein Traum war. Nichts, was er sich eingebildet hatte. Es war wirklich passiert. Er hatte sich tatsächlich einmal getraut, auf dem verbotenen Teppich zu spielen, als seine Mutter fort gewesen war, und als sie zurückkam … Er begann zu zittern, wollte sich wegdenken aus der Geschichte, doch es war wie eine verbotene Tür. Wenn man sie einmal geöffnet

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