Seelengift
hielt er sich an Mick fest. »Aber den da, den kenn’ ich doch! Von wegen Polizei. Sie sind doch der Ausländer, des g’schlamperte Verhältnis von der Niklas …«
»Bitte, Herr Manninger, es eilt.«
Grubers Stimme nahm an Schärfe zu, und Mannningers Blick kehrte prompt zu ihm zurück. »Ja, freilich eilt’s«, schimpfte er wieder los. »Ich hab’ ja schon zweimal angerufen heut, aber die Tritschler kommen ja nicht! Da meint man immer, das Tierheim wär’ für die Viecher da …«. Er griff nach einem Universalschlüsselbund, der an einem Haken in seinem Flur hing, und ging mit erstaunlich sicherem Gang voraus ins Treppenhaus. In dem Moment ertönte von oben ein lautes Bellen, gefolgt von einem schabenden Geräusch. Der Hausmeister beschleunigte seinen Schritt. »Da! Hören Sie’s? So geht das schon seit gestern Abend! Jedes Mal, wenn jemand unten zur Tür reinkommt, bellt das Viech los.«
Gruber blieb stehen. »Wie bitte? Seit gestern Abend schon?«
»Freilich!« Hausmeister Manninger nickte nachdrücklich. »Ich hab’ mir schon überlegt, ob ich nicht reingehen soll und dem Viech was zu fressen geben, aber jetzt sind ja Sie da.«
»Und Sie haben nicht einmal nachgesehen, ob Frau Niklas vielleicht etwas passiert ist?«, fragte Mick ungläubig nach und sprang mit langen Schritten die restlichen Stufen hinauf. Elises Bellen wurde lauter.
»Wir achten hier im Haus die Privatsphäre unserer Mieter!«, brachte der Hausmeister mühsam heraus. »Wo kämen wir da hin, wenn wir gleich bei jedem Hundebeller …«
»Jetzt sperren Sie schon auf, verdammt noch mal!«, schrie Mick wütend und rüttelte an der verschlossenen Tür. Elise, die Mick erkannt hatte, winselte jetzt, und das Scharren an der Tür hörte auf.
Clara wusste nicht, wie lange sie am Boden gekauert und geweint hatte. Wahrscheinlich war es nicht länger als ein paar Minuten gewesen. Er war nicht zurückgekommen, und das Licht im Zimmer war noch eingeschaltet. Irgendwann versiegten die Tränen von selbst. Ihre Augen brannten, und ihr Mund war vollkommen ausgetrocknet. Sie griff nach der Wasserflasche auf dem Tisch, roch zuerst noch einmal misstrauisch daran und trank schließlich in langen durstigen Zügen. Das Wasser war warm und ohne Kohlensäure, aber es schmeckte zumindest nicht so, als ob irgendetwas hineingemischt worden wäre. Vor der Tür war es still. Sie konnte keine Schritte hören, überhaupt keine Geräusche, und sie wünschte sich das Akkordeonspiel zurück, um wenigstens eine Ahnung davon zu haben, wo sich Gerlach gerade befand.
»Papa Joke«, murmelte sie und verzog den Mund. Was für ein Spitzname für diesen Mann, so vollkommen unpassend,
dass er gerade deswegen schon wieder treffend war. Da hatte Oscho mit seiner boshaften Ironie den Nagel auf den Kopf getroffen. Ob Gerlach wohl wusste, wie sie ihn genannt hatten? Wahrscheinlich.
Sie richtete sich keuchend auf und setzte sich auf den einzigen Stuhl, der am Tisch stand. Er war fahlgrün gestrichen wie der Tisch und hatte eine hohe, unbequeme Lehne. Vor ihr stand der Teller mit den Butterbroten. Es war ein altmodischer Teller mit Goldrand und kleinen Streublümchen, und die Brotscheiben waren mächtig und millimeterdick mit Butter beschmiert. Wenigstens hatte er nicht vor, sie hier verhungern zu lassen. Sie nahm eines der Brote und biss vorsichtig hinein. Trotz der Schmerzen beim Beißen und Schlucken merkte sie bei diesem ersten Bissen, wie groß ihr Hunger war. Langsam und mit sparsamen Kaubewegungen aß sie beide Brote auf. Danach fühlte sie sich stark genug, um wenigstens einigermaßen klare Gedanken fassen zu können. Und das musste sie. So schnell wie möglich.
Das Schlimmste an ihrer Situation war die Angst. Die Angst vor ihm. Sie lähmte sie, machte sie hilflos, unfähig zu agieren. Aber an dieser Angst ließ sich nichts ändern, sie war durchaus berechtigt. Clara befühlte ihr geschwollenes Gesicht und zuckte zusammen. Doch bei aller Brutalität blieb doch die Frage, warum er sie nicht längst umgebracht hatte. Er hatte Gerlinde Ostmann sterbend im Park zurückgelassen, hatte Irmgard Gruber mit bloßen Händen erwürgt. Und auch bei ihr war er nahe daran gewesen. Sie konnte noch immer seine Hände an ihrem Hals spüren, das grauenhafte Gefühl, keine Luft zu bekommen, sein Gewicht, mit dem er sie am Boden hielt, und dann diese Schwärze, das Wegdriften … Sie begann zu zittern und griff wieder nach der Wasserflasche.
Doch er hatte es nicht getan. Warum? Ihr fiel
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