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Seelengift

Titel: Seelengift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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das Schrillen
in ihrem Kopf wieder ein, das sie gehört hatte, bevor sie das Bewusstsein verlor. War er gestört worden? Sie nickte langsam, begreifend. Es konnte die Türglocke gewesen sein. Doch danach oder in der Nacht, als er zurückkam? Warum hatte er es da nicht getan? Stattdessen hatte er sie hierhergebracht. In seine Wohnung, in ein Zimmer, das aussah wie ein altes Kinderzimmer. Sie sah sich um. Hoffentlich ließ er das Licht brennen. Neben allem anderen war es merkwürdigerweise besonders beunruhigend, dass er die Gewalt über den Lichtschalter hatte. Er allein konnte darüber entscheiden, ob sie ihre Zeit hier im Dunkeln verbrachte oder im Licht.
    War das für das Kind, das hier gewohnt hatte, auch so gewesen? Hatten die Eltern entschieden, wann das Licht ausging? Aber sicher hatte es noch eine Nachttischlampe besessen oder eine Schreibtischlampe. Sie sah sich um, konnte jedoch keine Steckdose entdecken. War es sein Kind, das hier gewohnt hatte? War es erwachsen geworden, weggezogen, um zu arbeiten, zu studieren, so wie ihr Sohn? Oder vielleicht sogar gestorben? Das Zimmer wirkte merkwürdig verlassen. Es gab keine Bücher oder Spielsachen, keine Fotos oder Poster, es ließ sich nicht feststellen, wie alt das Kind gewesen war, als es hier gewohnt hatte. Über dem Bett hing ein Bild mit einem Schutzengel, daneben saß ein abgegriffener Teddybär auf einem Regal aus bunten Holzbrettern. Über dem Tisch hing ein altes Mobile von der Decke, schon verstaubt, aber noch immer im Gleichgewicht. Es bestand aus kleinen, buntbemalten Holzflugzeugen. Clara erinnerte es an etwas, aber sie wusste im ersten Augenblick nicht, woran. Doch dann fiel es ihr ein: Es erinnerte sie an das Geschenkpapier, mit dem die Lok eingepackt gewesen war, die sie gefunden hatte.
    Auf dem Tisch, der für das kleine Zimmer ziemlich groß war, wölbte sich unter einem alten Bettbezug ein unförmiger
Gegenstand. Clara beugte sich vor und lüpfte das Tuch vorsichtig an einer Ecke. Etwas Grünes lugte daraus hervor. Sie hob das Tuch ein wenig weiter an und schlug es schließlich ganz zurück. Es war eine Modelleisenbahn. Größer als die, die Clara in Gerlachs Geschäft gesehen hatte, aber genauso detailgetreu. Nur die Loks und Wagons fehlten, die Schienen waren leer. Es gab einen Stadtplatz mit Brunnen, umgeben von Fachwerkhäusern, einen Felsen mit einer Burgruine und einen Eisenbahntunnel darunter. Vor dem Stadtplatz befand sich der Bahnhof. Auf dem Ortsschild stand in etwas ungelenken, um Sorgfalt bemühten Buchstaben GLÜCKSSTADT.
    Clara musste lächeln, und gleichzeitig überkam sie ein Gefühl von Traurigkeit. Sie wusste jetzt, wessen Kinderzimmer es war, in dem sie gefangen saß: Es war Josef Gerlachs eigenes Zimmer. Dies hier war seine Eisenbahn, die er vor vielen Jahren als Kind gebaut hatte, vielleicht mit seinem Vater. Die Modellautos waren Fahrzeugtypen aus den Sechziger- oder Siebzigerjahren, auch die winzigen Menschen waren nach der damaligen Mode gekleidet. Es erinnerte Clara ein bisschen an eine Kiste, die es bei ihrer Großmutter in Starnberg auf dem Speicher gegeben hatte: Dort waren alte Spielsachen ihrer Geschwister und auch von ihrer Mutter und deren jüngerem Bruder aufbewahrt worden, und wenn Clara dort zu Besuch gewesen war, hatte sie damit gespielt.
    Sie strich mit den Fingern vorsichtig über die Dächer der Häuser, stellte einen umgefallenen Spaziergänger wieder auf und pustete auf das Ortsschild am Bahnhof. Staubflocken wirbelten auf.
    Glücksstadt. War dieser Name purer Zufall, oder hatte er eine Bedeutung für Josef Gerlach gehabt? Mit Sicherheit war Gerlach kein glücklicher Mann. Er war brutal. Bestimmt hatte er keine glückliche Kindheit gehabt, hier in dieser Kammer
mit dem winzigen Fenster. Und er hatte dieses Zimmer unberührt gelassen, all die Jahre, in denen er hier gewohnt hatte. Clara war sich jetzt sicher, dass er allein war und keine Familie besaß. Vielleicht hatte er sich in der Kindheit nach einem glücklicheren Ort gesehnt. Nach einer Glücksstadt .
    Clara legte den Bettbezug behutsam wieder über die Modelleisenbahn und dachte nach. Ihr fiel der Moment in der Kanzlei wieder ein, an diesem verdammten Tag, an dem Willi mit ihr gesprochen hatte, als ihr klar geworden war, dass der Mann, den sie suchten, kein kaltschnäuziges Monster war, sondern …
    »… ein armer Teufel«, flüsterte Clara fast lautlos in die Stille des kleinen Raums. »Er leidet darunter, was er getan hat, er verzweifelt daran

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