Seelengift
beide Arme schützend über ihren Kopf. »Nicht! Bitte!« Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern. Doch es kam kein weiterer Schlag. Als sie das Drehen des Schlüssels im Schloss hörte, hob sie langsam den Kopf. Er war weg. Sie begann zu weinen.
VIERUNDZWANZIG
Als Grubers Handy klingelte, saß er mit Armin in dessen Zimmer auf dem Boden und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Was als kleine Aufräumaktion begonnen hatte, war zu einer großen Entrümpelung ausgeartet, die nicht nur Armins altes Zimmer, sondern einen Großteil der Wohnung mit umfasst hatte. Jetzt standen alle ausgemusterten Gegenstände in Kisten verpackt und die Möbel ordentlich gestapelt im Flur und warteten auf den Abtransport auf den Speicher beziehungsweise zum Sperrmüll. Alle Schränke, Kästchen, Sideboards, Regale, Fenster, Fensterbänke, Wände, Nischen und Ecken waren von alten Erinnerungsgegenständen, Staubfängern und allen Dingen, die Gruber noch nie gemocht hatte, befreit. In Armins Zimmer lag nur noch die Matratze auf dem Boden. Er wollte es so. Und Gruber, der neben seinem Sohn auf der Matratze saß, fand es plötzlich auch nicht mehr so abwegig. Ein leeres Zimmer. Für ein Leben, das neu beginnen musste. Nicht das Schlechteste und jedenfalls besser als das alte, abgeschabte Jugendzimmer aus dem Versandhaus.
Er warf einen Blick auf das Handy, das als Anruferin Clara Niklas angab. Endlich. Es war schon fast sieben, und die Niklas hatte sich noch immer nicht gemeldet. Womöglich hatte dieser Typ ihr gar nicht ausgerichtet, dass er angerufen hatte. Doch es war nicht Clara Niklas, es war wieder dieser Engländer. Ob sich Clara bei Gruber gemeldet habe, wollte er wissen.
Sie sei nicht gekommen, obwohl sie für den Nachmittag verabredet gewesen waren. Und zu Hause sei sie auch nicht. Er klang besorgt.
Gruber revidierte seine abschätzige Meinung von dem Mann ein wenig und versuchte, das alarmierende Kribbeln in seinem Nacken zu ignorieren, das sich bei seinen Worten gemeldet hatte. Er kannte dieses Kribbeln. Es war eine Berufskrankheit und verhieß nichts Gutes. Niemals hätte er mit jemandem darüber gesprochen. Bauchgefühle, Intuition, das war etwas für Esoteriker und spinnerte Weiber, aber nicht für Polizeibeamte. Aber insgeheim hatte er diesem Gefühl doch vertraut, und dieses Vertrauen hatte sich bisher immer als richtig erwiesen. Was allerdings in diesem Fall höchst beunruhigend war.
»Ich habe keine Ahnung, wo sie sein könnte, Herr …«, begann Gruber zögernd.
»Hamilton.«
»Vielleicht hat sie Besuch bekommen oder so? Ihre Verabredung vergessen?«, mutmaßte Gruber in einem halbherzigen Versuch, seine böse Ahnung herunterzuspielen. Es gab schließlich keinen Grund zu glauben, dass ihr etwas passiert sein sollte.
»Nein, sicher nicht!«, gab Mick heftig zurück. »Wir wollten etwas unternehmen. Das ist nicht ihre Art, einfach nicht zu kommen.« Dann fügte er zögernd hinzu: »Sie war ein bisschen komisch in den letzten Tagen. Bedrückt. Kann es sein, dass das mit Ihrem Fall zu tun hat? Vielleicht hat sie irgendeinen Blödsinn gemacht?«
Gruber schwieg einen Augenblick. Sein Kribbeln wurde stärker. Dann sagte er: »Wir treffen uns in einer halben Stunde vor Claras Wohnung.«
Auf dem Weg von Milbertshofen durch die ganze Stadt bis zur Au, wo Clara wohnte, waren Gruber wieder Zweifel gekommen, ob er nicht ein wenig zu überstürzt gehandelt hatte. Vielleicht war er paranoid geworden in der letzten Zeit, sah Gespenster? Micks Stimme hatte so erschrocken geklungen, als Gruber das Treffen vorgeschlagen hatte, dass es ihm fast unangenehm gewesen war. Doch während er jetzt vor der Reichenbachbrücke im Stau stand und nur zentimeterweise vorwärtskam, wuchs seine Unruhe erneut. Clara war am Donnerstag noch einmal allein in dieser ominösen Kneipe gewesen. Was, wenn sie dort den Mörder aufgescheucht hatte? Seine Finger trommelten nervös auf dem Lenkrad herum. Ihm fiel ein, wie er sie nach der Beerdigung völlig aufgelöst am Parkplatz des Nordfriedhofs getroffen hatte. Da hatte sie behauptet, sie sei dem Mörder begegnet. Und er hatte sie nicht ernst genommen. Hatte das Ganze abgetan. Wegen seiner dämlichen Schwägerin und wegen Armin. Vor allem seinetwegen. Dabei war es ihrem Gesicht anzusehen gewesen, dass etwas nicht stimmte. Doch er hatte es nicht wissen wollen. Nicht in diesem Augenblick. Nicht mit Sabine Sommer und den Kollegen im Nacken, nicht fünf Minuten, nachdem man Irmi beerdigt hatte. Er war sogar
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