Seelengift
machen würden. Das gesamte Ermittlungsergebnis stützt sich darauf, dass mein Mandant nach einer romantischen Nacht mit seiner Exfrau von einem unerklärlichen Anfall von Raserei gepackt wurde und die Frau, mit der er gerade noch intim war, gepackt und erwürgt hat. Und das im Flur um fünf Uhr morgens, als er offenbar gerade gehen wollte. Hier stellt sich mir schon einmal die erste Frage: Warum ist er nicht einfach gegangen?
Er war schon im Flur. Was kann das für ein Streit gewesen sein, der ihn so zur Raserei getrieben hat? Die Eheleute Gruber waren seit über einem Jahr getrennt. Jetzt haben sie sich wieder angenähert, und dann, um fünf Uhr morgens, nachdem mein Mandant aufgestanden ist, um vor der Arbeit noch nach Hause zu fahren, überkommt ihn aus irgendeinem nicht näher festgestellten Grund ein mörderischer Wutanfall?« Clara ließ die Frage im Raum stehen.
Die Richterin, die ihr mit sehr zurückhaltender Miene zugehört hatte, sagte: »Ihr Mandant hat hierzu keine Aussage gemacht. Er behauptet, es habe keinen Streit gegeben.«
»Richtig.« Clara nickte. »Und das ist keine Schutzbehauptung meines Mandanten, sondern die Wahrheit.«
»Behaupten Sie«, entgegnete die Richterin mit leichtem Spott.
»Nein. Das behaupte ich nicht nur, sondern es deckt sich mit der Zeugenaussage: Der Nachbar von unterhalb hat nur Stimmen und ein lautes Geräusch gehört, aber keinen Streit.«
»Es war fünf Uhr morgens. Der Nachbar ist gerade aufgestanden. Ich denke, man kann seine Aussage schon so interpretieren, dass er laute Stimmen gehört hat, also streitende Stimmen«, gab die Richterin zu bedenken. »Wenn es das allein ist, worauf Sie sich stützen möchten …«
»Nein, das ist es nicht allein«, gab Clara ruhig zurück, »aber es ist der erste Punkt. Wie Sie ganz richtig anmerken, handelt es sich bei der Frage, ob es nun streitende oder nur normale Stimmen waren, die der Nachbar gehört hat, lediglich um eine Interpretation. Und zwar eine Interpretation der Beamten. Dabei wurde nicht einmal überprüft, ob man überhaupt Stimmen, egal, ob laut oder leise, aus der oberen Wohnung unten beim Nachbarn hören kann. Ich war selbst
in besagtem Anwesen und konnte mich davon überzeugen, dass das Haus in keiner Weise hellhörig ist: Man kann Stimmen aus der Wohnung im ersten Stock in den unteren Wohnungen nicht hören.«
Gruber warf ihr einen überraschten Blick zu, und Clara hob das Kinn. Diese Behauptung entsprach zwar nicht ganz der Wahrheit, war mehr Vermutung als Tatsache, doch das war nebensächlich. Ausschlaggebend war einzig und allein der Umstand, dass dies nicht überprüft worden war und daher im Augenblick auch nicht widerlegt werden konnte.
»Aber das stützt doch die Annahme, dass es sich um besonders laute Stimmen gehandelt haben muss«, wandte die Richterin ein. »Sonst hätte sie der Nachbar ja offenbar nicht hören können.«
»Mit Verlaub, auch das ist nur eine Interpretation. Eine Interpretation der ermittelnden Beamten, die es versäumt haben, die Aussage des Nachbarn genau zu überprüfen.«
»Aber wie soll es denn sonst gewesen sein? Unterstellen Sie dem Nachbarn, er habe gelogen, oder wie lautet Ihre Interpretation ?« Die Richterin wurde langsam ungeduldig.
»Herr Gschneidtner hat die Stimmen nicht aus der Wohnung kommend, sondern im Treppenhaus gehört.«
Die Richterin hob den Kopf. »Aber wenn der Streit, oder die Unterhaltung, wie Sie meinen, im Treppenhaus stattgefunden hat, dann würde das bedeuten, dass Ihr Mandant die Wohnung bereits verlassen hatte und dann noch einmal zurückgegangen ist, denn getötet wurde Frau Gruber in der Wohnung.« Die Richterin runzelte die Stirn. »Das scheint mir doch sehr unwahrscheinlich.«
Clara nickte. »Ja, da haben Sie recht. Und deshalb könnte es ein Hinweis darauf sein, dass gerade nicht Herr Gruber, sondern eine andere Person der Täter gewesen ist. Jemand,
der von außen gekommen ist: Er klopft an Frau Grubers Tür, sie öffnet im Glauben, ihr Mann sei noch einmal zurückgekommen. Doch es ist jemand anderer. Es gibt einen Wortwechsel, Frau Gruber will ihn nicht in ihre Wohnung lassen, er drängt sich hinein …« Clara hob die Schultern. »Es könnte sehr gut so gewesen sein. Wir wissen es nicht, weil die ermittelnden Beamten es versäumt haben, diese so wichtige Frage abzuklären: Hätte der Nachbar die Stimmen überhaupt hören können, wenn sie aus der Wohnung gekommen wären? Und hätte es dann nicht ein besonders lauter Streit sein
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