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Seelengift

Titel: Seelengift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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Dann schnäuzte er sich, faltete das Tuch wieder sorgfältig zusammen und steckte es zurück.
    Als er den Kopf hob und wieder hinübersah, war die Frau verschwunden. Er wagte es nicht hinüberzugehen, wollte auf diesem Teil des Weges nicht gesehen werden. Angestrengt blinzelte er durch die Bäume, die in der stärker werdenden Dämmerung bereits tiefschwarz schienen. Sie war weg. Keine grüne Mütze mehr zu sehen. Doch das besagte gar nichts. Er würde ihr wieder begegnen. Dessen war er sich sicher. Und
bei dem Gedanken daran fing sein Magen erneut an zu rebellieren.

    Zu Hause in Claras Wohnung war es kalt. Sie hatte am Wochenende, als sie in Micks Wohnung geflüchtet war, die Heizung zu weit heruntergedreht, und jetzt waren die Räume ausgekühlt, und es fühlte sich so an, als ob sie tagelang weggewesen wäre. Clara rannte durch die Zimmer und drehte an den Thermostaten. Es war merkwürdig, wie viel schwerer das Alleinsein zu ertragen war, wenn man nicht mehr daran gewöhnt war. Wahrscheinlich blieben deshalb so viele ihrer Mandanten bei ihren Ehepartnern, auch wenn sie sich schon längst auseinandergelebt hatten. Erst wenn das Zusammenleben so unerträglich wurde, dass es die Angst vor dem Alleinsein übertraf, fassten sie sich ein Herz - und manchmal noch nicht einmal dann. Clara hatte sich daran gewöhnt, nicht mehr allein zu sein. Auch wenn sie sich nicht jeden Tag sahen, war Mick doch da. In den gut zwei Jahren, in denen sie sich jetzt kannten, war er immer da gewesen. Bis jetzt.
    Clara zog die Vorhänge zu und schlüpfte in ihre dicken Socken. Sie hatte auf dem Rückweg einen Döner gegessen, in weiser Voraussicht, denn ihr Kühlschrank war ebenso leer wie ihre Wohnung. Dann goss sie sich einen üppigen Redbreast-Whiskey ein und ließ sich auf das Sofa plumpsen. Draußen im Flur auf ihrer Matratze knurpste Elise an einem großen Knochen herum. War es gut, sich an jemanden zu gewöhnen? Clara war sich nicht sicher. Es machte abhängig. Sie nippte nachdenklich an ihrem Whiskey. Und das war etwas, was sie nach dem Desaster mit ihrem irischen Exehemann immer hatte vermeiden wollen. Aber konnte man überhaupt lieben, ohne sich in eine Abhängigkeit zu begeben? Konnte man überhaupt leben, ohne von irgendetwas in irgendeiner
Art und Weise abhängig zu sein? Und war es überhaupt Liebe, die sie mit Mick verband, oder doch nur wieder Angst? Vor dem Alleinsein, vor dem Älterwerden, vor …
    Clara nahm noch einen Schluck und starrte vor sich hin. Es war zu still im Raum. Die ganzen Tage waren zu still. Nichts als die eigenen Gedanken, die man geradezu hören konnte. Sie mochte ihnen nicht dauernd zuhören. Sie stand auf und schaltete ihre Stereoanlage ein. Es war ein antiquiertes Stück, das die Freunde ihres Sohnes immer mit einer Art fassungsloser Begeisterung betrachtet hatten: Voll krass! Ein echter Schallplattenspieler! Mit Nadel und Hebel und so. Wie die Kinder, die sie eigentlich noch waren, aber nicht mehr sein wollten, hatten sie sich mit diesem Ding beschäftigt und Claras alte Platten angehört. Zu Claras Überraschung hatten sie vieles davon »geil« gefunden, und so war sie in ihrer Achtung um einiges gestiegen. Was allerdings nicht dazu geführt hatte, dass ihr eigener Sohn sie ebenfalls cool fand.
    Mittlerweile waren Schallplatten wieder extrem angesagt, und Sean, der seit einiger Zeit in Irland studierte, hatte ihr letztes Jahr zum Geburtstag eine alte LP geschenkt. Songs of Love and Hate von Leonard Cohen. Original aus den Siebzigern, mit einem Foto auf dem Cover, auf dem sie den Sänger fast nicht erkannt hatte. Wahrscheinlich, weil er lachte. Clara nahm die LP aus der Hülle und legte sie auf den Plattenteller. Dann setzte sie die Nadel behutsam auf eines ihrer Lieblingslieder: Now the flames, they followed Joan of Arc as she came riding through the dark …
    Sie liebte diese Stimme, »the golden voice«, wie Cohen selbst sie einmal in einem Lied genannt hatte: I was born with the gift of a golden voice …
    Clara trank noch einen Schluck Whiskey. Wozu sie wohl geboren war? Dazu, Mahnbescheide zu schreiben? Ehen und die
dazugehörigen zerbrochenen Träume abzuwickeln, die Fäden zu entwirren, damit jeder wieder eigene Wege gehen konnte? Und was blieb am Ende in ihren Händen übrig, nachdem sie sich all dieser negativen Energie entgegengestellt hatte, den aufgestauten Gefühlen, der Bitterkeit und den Hoffnungen, die irgendwo am Wegesrand liegen geblieben waren? Nichts als Erschöpfung. Und die

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