Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Seelengift

Titel: Seelengift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
Vom Netzwerk:
müssen, sodass der Nachbar sich auch dementsprechend ausgedrückt hätte? Er hat aber nicht gesagt, dass er einen Streit gehört hat. Nur Stimmen. Oder waren es tatsächlich einfach nur ›Stimmen‹, die aber aus dem Treppenhaus kamen, wo sie leicht vom Nachbarn gehört werden konnten, auch wenn sie nicht so laut waren?«
    Die Richterin gab keine Antwort. Sie blätterte in der Akte und suchte offenbar die Aussage des Nachbarn. Schließlich sagte sie: »Sie haben recht. Diese Frage wurde nicht überprüft.«
    Clara machte sich einen kleinen Haken neben dem ersten Punkt auf ihren Notizen. »Hierzu kommt noch, dass die Beamten behaupten, es habe keine Möglichkeit gegeben, ungehört ins Haus zu kommen, wenn man keinen Schlüssel besitzt. Das ist falsch.« Clara schilderte der Richterin ihre Erfahrung mit der Haustür. »Es bestand also sehr wohl die Möglichkeit, ins Haus zu gelangen, nachdem mein Mandant es verlassen hatte, ohne klingeln zu müssen.« Clara machte eine gewichtige Pause. »Diese Möglichkeit haben die Ermittlungsbeamten ebenfalls nicht in Betracht gezogen. Zumindest findet sich dazu kein Hinweis in der Akte.«
    Die Richterin machte sich eine Notiz. »Also gut. Das ist ein
Einwand, den ich gelten lasse. Hier muss noch nachermittelt werden. Aber ich habe meine Zweifel, ob es reichen wird, den Haftbefehl gegen Ihren Mandanten aufzuheben.«
    Clara nickte. Mehr hatte sie auch nicht erwartet. Ein erster Zweifel. Das war besser als nichts. »Aber ich bin noch nicht fertig«, sagte sie.
    Die Richterin lächelte ironisch. »Davon gehe ich aus, Frau Rechtsanwältin.«
    Clara holte tief Luft und warf einen Seitenblick auf Walter Gruber. Es würde ihm nicht gefallen, was sie jetzt zu sagen hatte. »Ich möchte noch ein wenig genauer auf die beiden Aussagen der Kollegen meines Mandanten eingehen«, begann sie. »Wie Ihnen sicher aufgefallen ist, unterscheiden sie sich erheblich voneinander in der Wertung der Ereignisse.«
    Die Richterin blätterte zurück und überflog die beiden Aussagen. Dann nickte sie. »Ja, mag sein, aber es handelt sich ja, wie Sie selbst sagen, um rein subjektive Wertungen und keine Tatsachen, also spielen sie bei der Entscheidung keine Rolle.«
    Wer’s glaubt, wird selig, dachte Clara. Natürlich spielten Wertungen eine Rolle. Richter waren auch nur Menschen und selbstverständlich abhängig von Wertungen, so wie alle anderen auch.
    »Ich darf also davon ausgehen, dass die Aussage von Frau Sommer bei der Entscheidung über den Haftbefehl in keiner Weise berücksichtigt wird?«, fragte Clara nach und ignorierte Gruber, der sie anstieß und flüsterte: »Was hat dieses intrigante Luder denn über mich erzählt?«
    »Soweit es eine persönliche Wertung ist, nicht«, schränkte die Richterin ein. »Aber natürlich berücksichtigen wir ihre Aussage ebenso wie alle anderen. Sie hat Erfahrung mit der Einschätzung von Tatverdächtigen, sie kennt Ihren Mandanten
als Kollegen, kann hier also wertvolle Hinweise geben.«
    Wertvolle Hinweise. Clara verzog das Gesicht. »Dann möchte ich, dass Sie das Folgende ebenfalls berücksichtigen und in die Akte aufnehmen: Frau Hauptkommissarin Sabine Sommer hat sich im vergangenen Jahr um die Höherstufung zur Dienststellenleiterin beworben. Diese Stelle hat jedoch mein Mandant bekommen. Daraufhin hat Frau Sommer um Versetzung gebeten, die ihr jedoch nicht bewilligt wurde. Sie hat als Grund ›unüberbrückbare Differenzen‹ mit Herrn Gruber angegeben. Kurz danach kam es zu dem in der Akte erwähnten Vorfall während eines Verhörs, in dem mein Mandant angeblich gewalttätig gegenüber einem Verdächtigen geworden wäre.« Clara machte eine kurze Pause. »Die Beamtin, die diesen Vorfall als Einzige bemerkt haben will und die auch die Aussage des Verdächtigen hierzu zu Protokoll genommen hat, war Hauptkommissarin Sabine Sommer.« Clara fuhr schnell fort, bevor die Richterin etwas einwenden konnte. »Mir ist klar, dass es sich hierbei ebenfalls nur um Wertungen und Vermutungen handelt. Nachdem aber auch die Wertungen und Vermutungen von Frau Sommer in der Akte stehen und insbesondere auch der Vorfall während des Verhörs, der mit der aktuellen Sache überhaupt nichts zu tun hat, möchte ich, dass der Vollständigkeit halber auch diese Umstände aufgeführt werden, damit man sich, auch wenn man sich nicht von Wertungen leiten lässt, ein Gesamtbild machen kann.«
    Clara lächelte, und die Richterin erwiderte ihr Lächeln etwas süßsauer. »Wenn Sie meinen.«

Weitere Kostenlose Bücher