Seelengift
rechteckige Tageslichtlampe mit silbernem Gitter, wie es Vorschrift war, obwohl er keinen Angestellten hatte, sich also nur selbst seine Augen ruinieren konnte, ein zweiter für die runde Lampe aus Milchglas hinter dem Tresen und der letzte, ganz unten und zweigeteilt, für die langen Neonröhren links und rechts entlang der Regale.
Seine Hände zitterten noch immer, als er seinen Anorak auszog und an den Haken in der Teeküche hängte. Teeküche. Was für ein schönes Wort für den engen, muffigen Abstellraum hinter der Verkaufstheke. Herr Bockelmann hatte ihn immer so genannt, obwohl seines Wissens dort nie Tee getrunken worden war. Ein mit einer abwaschbaren Folie beklebter Tisch befand sich darin, ein alter Stuhl mit Metallfüßen und ein Regal mit Keksen und Instantkaffee. Und ein gesprungenes Waschbecken mit einem kleinen Spiegel neben dem Wischmopp und dem Eimer für die Putzfrau. Bei Herrn Bockelmann war der Tisch immer übersät gewesen mit Kabeln, Zangen, Relais, Gleisteilen, Weichen, Pinzetten,
Lupen, Klebstoff, Kunstrasenstückchen der Sorte »Blumenwiese«, »Parkrasen« oder »Schotterfläche mit Wildkräutern«, dazwischen Pfeifentabakkrümel, vertrocknete Apfelschalen und ein Schweizer Taschenmesser mit verklebter Klinge vom Brotzeitmachen und Apfelschälen.
Das Taschenmesser hatte er von Herrn Bockelmann geerbt wie den Laden. Gewissermaßen jedenfalls. Er hatte ihn nach dem Tod seines Chefs von den Erben gekauft. Für einen Spottpreis. Die beiden Kinder lebten in Düsseldorf, hatten kein Interesse an einem winzigen, verstaubten Laden in München, kein Interesse an Modelleisenbahnen, kein Interesse an dem, was das Leben des Vaters gewesen war. Er hatte das Desinteresse sofort bemerkt, schon beim ersten Telefonat, förmlich gerochen hatte er es, es roch wie schale, abgestandene Luft in einem Raum, der schon lange nicht mehr benutzt worden war, Luft, die müde machte und den Rücken krumm, die einen kraftlos zusammensacken ließ wie eine Nacht ohne Schlaf, mit ewigem Umherwälzen, den Kopf voll schwerer Gedanken.
Er hatte es ihnen übelgenommen, dieses stinkende Desinteresse, diese faulige, lauwarme Abluft, die durchs Telefon zu ihm gedrungen war und seine Wohnung verpestet hatte. Und er hatte beschlossen, es sich zunutze zu machen.
Als sie endlich ihr Kommen ankündigten, um »Vatis Angelegenheiten zu erledigen« - die Beerdigung war längst schon über die Bühne gegangen, »zu Hause« in Düsseldorf, Bockelmanns Wunsch, in München bestattet zu werden, das seit vierzig Jahren schon sein Zuhause gewesen war, bewusst ignorierend -, hatte er der Putzfrau frei gegeben und Herrn Bockelmanns Durcheinander im Lager und in der Teeküche mit Schachteln und Verpackungsmaterial, gebrauchten Kaffeefiltern, angeschlagenen Äpfeln und längst ausrangierten
Stapeln von Prospekten jeden Tag noch ein wenig verstärkt. Es hatte ihn große Überwindung gekostet, und mehr als einmal hatte er sich fast übergeben, als er die Teeküche betreten hatte und sein Blick auf das schmutzige, speckige Waschbecken gefallen war. Aber er hatte sich immer wieder in Erinnerung gerufen, wofür er es tat, und sich ausgemalt, wie schön und ordentlich er alles machen konnte, wenn der Laden ihm erst einmal gehörte. Zusätzlich hatte er an dem Tag, für den sie sich angekündigt hatten, die Neonröhren im Verkaufsraum entfernt und in die Lampe über der Kasse statt einer Sechzig-Watt-Birne eine Fünfundzwanzig-Watt-Funzel eingeschraubt. Das bleiche Deckenlicht und der müde Schein über dem Tresen reichten bei weitem nicht aus, um die Ecken und all die tiefen Regale ausreichend zu beleuchten. Stattdessen verwandelten sie den Laden in eine armselig wirkende, düstere Höhle, vollgestopft mit verstaubten Schachteln und lächerlichen Bastelsätzen, etwa für den originalgetreuen Nachbau des Stadtplatzes von Bad Tölz, der aufgrund einer Krimiserie eine unglaubliche Nachfrage erfahren hatte, einer Bauanleitung des Loreleyfelsens oder eines Straßenzuges im Berlin der Jahrhundertwende. Jämmerliches Zeug für hoffnungslose Spinner, wie »Vati« einer gewesen war.
Die beiden waren auch entsprechend zurückhaltend durch den Laden gegangen. Die Tochter, Sabine Bockelmann-Thömmes, in Düsseldorfer Einkaufspassagen-Chic mit Stöckelschuhen und von blasierter Arroganz umgeben wie von einem falschen Heiligenschein, der Sohn, Werner Bockelmann, mit Wampe, im Anzug, einen dicken Siegelring am Finger und mit aggressivem Bürstenhaarschnitt. Beide
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