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Seelengift

Titel: Seelengift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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Aufschub, nichts weiter.
    Clara hatte ihre Zweifel, dass die nun folgenden Ermittlungen tatsächlich zu einem neuen Täter führen würden. Selbst wenn es nicht bewusst geschah, würden sie doch in erster Linie dazu dienen, die bisherigen Ergebnisse zu untermauern. Die Polizei würde sich nicht dem Vorwurf aussetzen wollen, man habe ausgerechnet im Fall eines Verdächtigen aus den eigenen Reihen fahrlässig ermittelt. Wenn zu den Zweifeln, die sie heute hatte säen können, nicht noch Tatsachen hinzukamen, dann war Gruber genauso schnell wieder in Haft, wie er jetzt herausgekommen war. Und dann aber mit hieb- und stichfesten Beweisen, die sich nicht mehr so leicht aushebeln ließen. Es war also Eile geboten. Sie mussten die Zeit nutzen, die ihnen jetzt geschenkt worden war, um - ja um den wirklichen Mörder zu finden. Clara unterdrückte einen Seufzer. Wenn sie nur wüsste, wo sie mit der Suche anfangen
sollte. Sie wandte sich wieder Gruber zu, der irgendetwas zu ihr gesagt hatte: »Entschuldigung, was meinten Sie?«
    Gruber lächelte sein bitteres Lächeln. »Ich sagte gerade, Sie waren mir im letzten Jahr schon etwas unheimlich, aber seit heute weiß ich auch, warum.«
    Clara lächelte zurück. »Das ist ein eher zweifelhaftes Kompliment, würde ich sagen.«
    Er nickte. »Es kommt halt immer darauf an, auf welcher Seite man steht.«
    Clara verabschiedete sich und ging. Als sie ein wenig ziellos die Nymphenburgerstraße überquerte, drehte sie sich noch einmal um. Sie sah einen dunkelgrauen BMW älteren Baujahrs am Straßenrand halten und einen jungen Mann herausspringen: Armin, Grubers Sohn, der am Montag bei ihr im Büro gewesen war. Er lief um das Auto herum und blieb vor seinem Vater stehen. Sie standen sich einen Moment reglos gegenüber. Kein Handschlag, keine Umarmung, nichts. Dann hob Armin seine Rechte und berührte seinen Vater einen kurzen Augenblick lang an der Schulter. Es war eine sehr schüchterne Geste, und doch rührte sie Clara mehr, als jede Überschwänglichkeit es hätte tun können. Walter Gruber nickte knapp und stieg in das Auto. Clara sah ihnen nach, wie sie wendeten und in Richtung Stadtzentrum davonfuhren, und überlegte, wie es wohl sein mochte, Walter Grubers Sohn zu sein.

SECHS
    Als er den Laden aufsperren wollte, fiel ihm der Schlüssel aus der Hand. Er spürte, wie ihm heiß wurde. Sicher hatte es jemand gesehen. Der Passant, dessen Schritte er hinter sich hörte. Wahrscheinlich musterte er ihn gerade mitleidig. Oder der Fahrer des Autos, das eben vorbeigefahren war. Sicher hatte er zu ihm herübergesehen, gelangweilt, lässig, genau in dem Moment, in dem er den Schlüssel aus der Jackentasche gezogen und versucht hatte, ihn ins Schloss zu stecken.
    Er bückte sich und griff rasch nach dem Schlüsselbund. Immer diese Ungeschicklichkeit. Seine Mutter hatte jedes Mal den Kopf geschüttelt und die Augen verdreht, wenn er etwas hatte fallen lassen. Ihr Sohn war ein Tollpatsch. Seine Bewegungen plump, seine Beine x-förmig, seine Füße platt. Ungeeignet für fast alles. Für alles, was seine Mutter sich für ihn erträumt hatte. Leichtathletik zum Beispiel. Allein das Wort zeigte schon, dass es eine Tätigkeit war, die für ihn nicht in Frage kam. Leicht. Was war für ihn jemals leicht gewesen? Und dann noch athletisch.
    Seine Hände zitterten, als er den Schlüssel endlich ins Schloss steckte und dann herumdrehte. Man musste nach der halben Drehung die Tür ein wenig zu sich heranziehen. Genau nach einer halben Umdrehung, nicht früher und nicht später. Nur dann ließ sich das Schloss öffnen.
    Er wagte es nicht, sich umzudrehen, um zu kontrollieren, ob tatsächlich jemand hinter ihm stand und ihm dabei zusah.
Sein Wohnungsnachbar, der alte Herr Lochhauser, hatte ihn heute Morgen seltsam gemustert. So von oben bis unten. ALS OB ER ETWAS WÜSSTE. Ihm war der Gruß im Hals stecken geblieben. So schnell er konnte, war er mit gesenktem Kopf an ihm vorbeigehastet.
    Endlich gelang es ihm aufzusperren. Jeder, der vorbeikam, würde sich denken, was ist das nur für ein Idiot, bringt die Tür zu seinem eigenen Laden nicht auf. Ist er besoffen, schon am frühen Morgen? Oder warum zittert er so? Der hat doch was zu verbergen. In seinem Nacken begann es zu kribbeln. Rasch schlüpfte er in den Laden und schloss die Tür hinter sich. Atmete aus. Dann drückte er alle Schalter neben dem Türrahmen an der Wand, und das Licht flammte auf. Drei Schalter waren es. Einer für das Deckenlicht, eine große,

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