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Seelengift

Titel: Seelengift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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ungewaschenen Hände. Er hasste den Geruch. Und Schmutz unter den Fingernägeln verursachte ihm Brechreiz. Noch immer. Seine Mutter hatte ihn als Kind einmal gezwungen, die schwarzen Krümel und die fettigen grauweißen Ablagerungen, die sie mit dem Nagelreiniger unter seinen kleinen Fingernägeln herausgekratzt hatte, zu essen. Er hatte sich danach mehrmals übergeben müssen, und noch heute meinte er manchmal, den ranzigen Geschmack auf der Zunge zu schmecken, und ihn überfiel ein plötzlicher Würgereiz. Vor allem dann, wenn ihm jemand mit schmutzigen Fingernägeln begegnete, ein Kunde ihm Geld reichte oder die Ware entgegennahm. Dann musste er sich rasch abwenden, täuschte einen Hustenanfall vor oder schob die tränenden Augen auf eine Heuschnupfenattacke. Doch die Methode seiner Mutter hatte Wirkung gezeigt. Seitdem waren seine Fingernägel nie mehr schmutzig gewesen. Er besaß
fast keine Fingernägel mehr, so besessen war er von dem Gedanken, es könnte sich Dreck darunter sammeln. Und den verbliebenen Rest schrubbte er jeden Tag mehrmals mit Wurzelbürste und Kernseife. Mit Wasser so heiß, dass er es kaum ertragen konnte. Seine Hände waren dadurch sehr empfindlich, bei der Kälte, die zurzeit herrschte, trug er ständig Handschuhe, manchmal sogar in der Wohnung. Aber sie waren sauber. Porentief sauber. Er konnte es sehen und riechen und fühlen. Sie waren das Reinste an ihm. Zarte rosa Haut wie die eines Neugeborenen. Beim Reparieren einer Eisenbahnanlage und beim Bau der Modelle kam ihm diese Empfindlichkeit sehr entgegen: Jede noch so winzige Unebenheit konnte er fühlen, jede Kerbe, jede Vertiefung. Noch bevor er sie durch die Lupe sah, hatte er sie mit den Fingerspitzen bereits ertastet.
    Heute hatte er seine Hände besonders gründlich gewaschen. Eine halbe Stunde lang. Mindestens. Die Kruste des getrockneten Blutes an den Knöcheln störte den reinen Gesamteindruck etwas. Überhaupt schienen seine Hände heute trotz seiner Bemühungen nicht ganz so sauber geworden zu sein wie sonst. Es haftete ihnen ein Grauschleier an und ein übler Geruch. Es musste an der Zeitung liegen. Druckerschwärze. Ein ekliges Wort. Und die vielen Finger, durch die die Zeitung schon gegangen war, bevor sie ihm der Bote in den Briefschlitz gesteckt hatte. Er schauderte. Aber es war nicht so sehr der äußere Schmutz, der seine Finger und seinen Tag hatte grau werden lassen. Es war Schmutz, der von innen kam. Aus den Buchstaben war er herausgekommen, wie fettiger Dampf aus dem Abluftschacht einer Imbissbude. Dampf, der einem den Sauerstoff zum Atmen nahm, der die Poren verklebte und sich wie ein widerlicher, schmieriger Film auf alles Saubere, Reine legte.

    Kriminalkommissar aus Untersuchungshaft entlassen.
    So hatte es dort gestanden. In großen Buchstaben, satt von Druckerschwärze. Er war mit dem Daumen darübergefahren und hatte die Buchstaben dabei verschmiert. Doch selbst wenn er sie hätte wegwischen können, es wäre natürlich sinnlos gewesen. Sie waren längst bei ihm angekommen, ließen sich nicht mehr herausradieren aus seinem Kopf. Als er seinen geschwärzten Daumen sah, ließ er die Zeitung fallen, als sei sie vergiftet, was sie ja auch war, und rannte ins Bad, um die Farbe abzuwaschen. Was gäbe er nur dafür, auch die Gedanken abwaschen zu können. Warum gab es nicht eine Kernseife für das Gehirn? Um alle Gedanken sauber zu waschen, die Hirnschale zu reinigen wie eine Salatschüssel in der Spülmaschine. Porentief. Als er mit brennenden Händen aus dem Bad kam, ging es ihm nur unwesentlich besser. Er hielt die Hände waagerecht vor sich ausgestreckt, damit das Blut von den Knöcheln nicht auf den Teppich tropfte. Er konnte es nicht abwischen, Papierflusen würden sich lösen, sich dazwischenschieben, klebenbleiben im Blut, eine Vorstellung, die fast so widerlich war wie Schmutz unter den Fingernägeln. Er legte die Hände auf den Tisch und wartete, bis das Blut zu trocknen begann. Es ging schnell. Nur ein paar Abschürfungen um die Knöchel herum. Derweil dachte er nach. Es war klar, was die Nachricht in der Zeitung zu bedeuten hatte: Es ging weiter.
    Natürlich. Er hatte sich geirrt in der Annahme, es sei vorbei. Doch im Grunde war es keine wirkliche Überraschung. Er hatte es bereits in dem Moment gewusst, als er die Frau mit der grünen Mütze und den roten Haaren dabei beobachtet hatte, wie sie die Böschung hinunterblickte. Oder eigentlich schon vorher, als ihn diese Ahnung, diese furchtbare Ahnung dazu

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