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Seelengift

Titel: Seelengift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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handeln, wie Kommissarin Sommer es erwartet. Wenn man seine tote Frau findet,
wenn man sie nackt im Gebüsch liegen sieht, den Blicken Fremder ungeschützt ausgesetzt, nicht mehr in der Lage, sich zu wehren, dann spielt es keine Rolle mehr, ob man Polizist ist oder was auch immer. Vielleicht spielt es dann sogar keine Rolle mehr, ob man der Täter ist.«
    Die Richterin nickte. »Ich stimme Ihnen zu.«
    Clara schloss für einen winzigen Moment die Augen, um sich zu konzentrieren. Jetzt kam der entscheidende Augenblick.
    »Aber dann bleibt doch eine entscheidende Frage offen«, sprach sie bedächtig und fast wie zu sich selbst weiter. »Warum um alles in der Welt hätte mein Mandant sie vorher ausziehen sollen?«
    Die Richterin hob den Kopf. »Wie? Ich verstehe nicht …«, begann sie, doch dann begriff sie, was Clara meinte, und Überraschung zeichnete sich auf ihrem strengen Gesicht ab. »Der Morgenmantel.«
    Clara nickte. »Irmgard Gruber trug einen weißen Morgenmantel aus Seide. Bevor man sie die Böschung hinunterstieß, hat man ihn ihr ausgezogen. Er lag unversehrt an der Uferböschung, der Gürtel war noch im Kofferraum des Wagens. Warum?« Sie schüttelte den Kopf. »Frau Richterin, mein Mandant kann es nicht gewesen sein. Bei allen möglichen und unmöglichen Versuchen, sich sein Verhalten zu erklären, muss man hier scheitern: Er hätte seiner toten Frau auf gar keinen Fall, nie, niemals den Morgenmantel ausgezogen.«
    Richterin Dr. Allescher erwiderte Claras Blick, und Clara konnte sehen, dass es ihr gelungen war, sie zu überzeugen. Es war dieser letzte Punkt, der den Ausschlag gegeben hatte.
    Sie warteten, und keiner sagte ein Wort. Wie ein lebendes Bild verharrten alle im Raum, regungslos, endlose Augenblicke lang. Dann gab sich die Richterin einen Ruck und
wandte sich an die Protokollführerin. »Nach Erörterung der Sach- und Rechtslage mit den Beteiligten kommt das Gericht zu der Auffassung, dass der dringende Tatverdacht nicht hinreichend gesichert scheint, um die Fortdauer der Untersuchungshaft zu rechtfertigen. Das Gericht ordnet Nachermittlungen hinsichtlich der Zeugenaussage des Herrn Gschneidtner betreffend die gehörten Stimmen zum Tatzeitpunkt an. Auf die hierzu gemachten Ausführungen der Verteidigerin wird ausdrücklich verwiesen. Weiter werden Nachermittlungen zu der Beziehung des Herrn Adolf Wimbacher zu dem Opfer angeordnet sowie zur Feststellung seines Aufenthalts zum Tatzeitpunkt. Die bisherigen Ermittlungen hält das Gericht für nicht ausreichend, um den dringenden Tatverdacht gegenüber Walter Gruber aufrechtzuerhalten. Es bestehen nach Prüfung der Sach- und Rechtslage vielmehr erhebliche Zweifel an der Täterschaft des Beschuldigten. Der Haftbefehl wird daher mit sofortiger Wirkung aufgehoben.«
     
    Sie verließen den Sitzungsaal ohne ein Wort, ohne einen Blick füreinander. Erst nachdem sie die Sicherheitsschleuse am Eingang des Strafjustizzentrums hinter sich gelassen hatten und in die schneidende Kälte hinaustraten, wandte sich Gruber Clara zu. Doch auch jetzt sagte er nichts. Es war, als fehlten ihm die Worte. Clara konnte gut nachfühlen, was in ihm vorging. Es war alles so schnell gegangen. Zuerst die Nachricht vom Tod seiner Frau, die Verhaftung, die Untersuchungshaft und jetzt, von einer Minute auf die andere, die Freilassung. Und gleichzeitig neben der Erleichterung und der allgegenwärtigen Trauer im Hintergrund das Wissen, dass es noch nicht vorbei war. Im Gegenteil, es hatte gerade erst angefangen. Clara sah ihn ernst an. »Wir müssen uns unterhalten.«

    Gruber nickte. Er presste die Lippen aufeinander und wandte dann den Kopf ab, hielt sein Gesicht ins Licht der blassen Sonne. »Natürlich«, murmelte er mit geschlossenen Augen, »aber nicht jetzt.«
    Clara schüttelte den Kopf. Nein. Nicht jetzt. Schweigend blieben sie nebeneinander stehen. Gruber hatte bei seinem Sohn anrufen lassen. Er würde ihn abholen.
    Nach einer Weile sagte Clara: »Ich muss jetzt gehen …«.
    Gruber schrak zusammen, als hätte sie ihn geweckt. Er griff nach ihrer Hand und hielt sie so fest, dass es weh tat. »Wollen Sie nicht warten? Armin kann Sie fahren …«
    Clara schüttelte den Kopf. »Nein danke. Ein bisschen frische Luft wird mir guttun.« Sie versuchte ein Lächeln. »Rufen Sie mich an, wenn Sie so weit sind? Wir sollten nicht so lange warten …« Sie sprach es nicht aus, aber es hing auch so drohend wie das Damoklesschwert über ihnen: das Wort Nachermittlungen . Es war nur ein

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