Seelengift
bewogen hatte, ihr zu folgen. Sie hatten ihn natürlich
nur in die Irre führen wollen mit Grubers Verhaftung. Das war ihm jetzt klar. Um ihn in Sicherheit zu wiegen. Aber warum? Warum nur spielten sie dieses grausame Spiel mit ihm? Er verzog schmerzlich das Gesicht. Wieder war es ihnen fast gelungen, ihn zu täuschen. Einen kurzen Augenblick lang hatte er sich sicher gefühlt. Befreit. Sein Blick fiel auf den schwarzen Akkordeonkasten in der Ecke, und er verspürte einen Anflug von Trauer. Es wäre so schön gewesen. Fast wie ein neues Leben. Doch stattdessen war er jetzt noch mehr auf der Hut. Noch einmal würden sie ihn nicht betrügen können. Und sie wussten jetzt auch, dass er sich wehren konnte. Dass er gefährlich war. Ja. Das wussten sie alle. Und dieser Kommissar, der wusste es am allerbesten.
SIEBEN
Clara kletterte mühsam auf den Fahrersitz des alten, schlammgrünen Defenders, den Mick sein Eigen nannte, und verfluchte die glatten Sohlen ihrer Stiefel, die sie hatten abrutschen lassen, was einen schmerzhaften Zusammenstoß ihres Schienbeins mit der scharfen Kante der Tür zur Folge gehabt hatte. Nichts an diesem Auto war bequem, rund, weich, elegant oder auch nur im Geringsten komfortabel. Nur Ecken und Kanten, Metall und ein dröhnender Motor. Möglicherweise ein nützliches Gefährt auf einer Expedition durch die Wüste Gobi oder auf den Berg Ararat, ein wenig unpraktisch jedoch auf dem Weg von München-Neuhausen zum Flughafen. Einzig die teure Musikanlage mit den leistungsstarken Boxen, die jedoch auch nötig waren, um die Motorengeräusche zu übertönen, und das großzügige Platzangebot für Elise im Fond waren ein Pluspunkt für dieses Auto, durch das auch bei geschlossenen Fenstern immer irgendwie der Wind zu pfeifen schien und dessen Scheibenwischer sich ihrer eigentlichen Aufgabe in keiner Weise bewusst waren, die sich stattdessen jedes Mal, wenn sie sich bei ihrer gemütlichen Schleifbewegung über die Scheibe begegneten, in einer merkwürdigen Sprache unterhielten.
Clara liebte dieses Auto trotzdem. Weil sie Mick liebte. Und beides würde sie nie zugeben. Niemals. Stattdessen rumpelte sie, Mick und seine englische Kolonialisten-Möchtegernexpeditionskarosse verfluchend, über die Autobahn, und ihr
Atem stieß kleine weiße Zornwölkchen in die eisige Luft, während Greenday, die wiederum Mick liebte, obwohl sie unwiderlegbar und ohne jeden Zweifel eine amerikanische und keine englische Band waren, ihre ganze Wut aus den teuren Boxen hinaus und in Claras Ohren brüllten. Elise schlief. Bis zu ihr nach hinten drangen weder die E-Gitarren noch Claras Schimpfen. Mick hatte ein Faible für Punk, egal, ob amerikanisch oder englisch, ob »original« oder »kommerziell«, er war da in keiner Weise dogmatisch. Er sprach Punk nicht pank aus , wie man es in Deutschland so vermeintlich korrekt englisch tat, sondern sagte punk mit einem gutturalen, merkwürdigen u , das entfernt an ein a erinnerte und das Clara noch in hundert Jahren nicht würde aussprechen können. Punk also. I’m the son of rage and love , brüllte Billie Joe, on a steady diet of soda pop and ritalin … Und Clara brüllte versuchsweise mit: No one ever died for my sins in hell, as far as I can tell und hämmerte im Takt auf das Lenkrad ein, während sie sich auf die Abbiegespur einordnete.
Auf der Fahrbahn links neben ihr, allerdings um einiges tiefer sitzend, fuhr eine Familie mit zwei Nintendo-hypnotisierten Kindern auf der Rückbank. Ihre Gesichter leuchteten blau im Schein der kleinen Bildschirme, auf die sie starrten. Die Frau auf dem Beifahrersitz, blond, mit spitzer Nase und müden Augen, warf Clara einen pikierten Blick zu und sagte etwas zu ihrem Mann am Steuer, ohne die Augen von ihr abzuwenden. Clara grinste und deutete auf die Kinder. On a steady diet of soda pop and ritalin?, sang sie noch einmal gegen die Scheibe und überholte dann frech von rechts. Der Mann hupte erbost. Clara lachte und drückte wahllos ein paar Knöpfe der Anlage, um endlich bei ihrem Lieblingslied anzulangen. Give me a long kiss goodnight and everything will be alright, schmetterte sie vergnügt, während endlich der Tower in Sicht kam.
Als Clara am Gate stand, war ihr ein wenig flau im Magen. Zu wenig gefrühstückt. Eindeutig. Über ihr flatterte die Anzeige der einzelnen Flüge. London/Heathrow rückte einen Platz vor, überholte Paris/Charles de Gaulle - delayed , und dann war es endlich soweit. Die Maschine war gelandet. Clara mahnte sich
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