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Seelengift

Titel: Seelengift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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energisch und schob dann dieses egoistische, stechende kleine Gefühl rasch beiseite. Zu ansteckend war Micks Begeisterung, ihr alles zu zeigen und zu erklären, und im Übrigen war Clara auch brennend neugierig, wie diese Familie, Micks Familie, von der sie bisher noch kaum etwas gehört hatte, wohl aussehen mochte.

    Zuerst kamen eine ganze Reihe Fotos von Kurt-Karim: Auf der Krabbeldecke, im Kinderwagen, auf dem Schoß von irgendjemand, dessen Kopf abgeschnitten war, und dann eines, schnell und etwas verschämt beiseitegeschoben, von Mick mit dem Baby im Arm, wobei beide einen etwas belämmerten Gesichtsausdruck zur Schau stellten.
    Clara musste lächeln, obwohl sich prompt ihr Unbehagen zurückmeldete. Dann kam ein Foto der stolzen Eltern von Kurt-Karim: Micks Schwester Katie, eine junge Frau mit Nasenpiercing, großen Kulleraugen und einem abenteuerlichen Kurzhaarschnitt in vorwiegend Fuchsrot, glücklich lachend im Arm eines ernst wirkenden, dunkelhäutigen jungen Mannes mit Pferdeschwanz.
    »Katie ist Friseurin«, erklärte Mick. »Sie hat einen eigenen Laden.«
    Clara warf einen bedeutungsvollen Blick auf Micks rasierten Kopf und nickte. »Aha. Das erklärt so einiges … Und Karim? Karim senior?«
    »Oh, er ist Koch, und außerdem spielt er dieses merkwürdige Instrument.« Mick machte eine Handbewegung, als wolle er die Saiten einer überdimensionierten Gitarre zupfen, und verdrehte dabei gequält die Augen. »George Harrison fand das mal ganz toll, und Cat Stevens, glaube ich, auch. Es klingt ein bisschen wie jaulende Katzen …«
    »Du meinst eine Sitar?« Clara lachte.
    Mick nickte. »Ja, so nennt sich das wohl. Es soll sehr erleuchtend sein. Vorausgesetzt, man will sich erleuchten lassen.« Er zuckte mit den Schultern. »Katie liebt es. Karims Musik kommt gleich nach Kurt Cobain.«
    »Na, mal sehen. Wahrscheinlich wird Kurt-Karim die Popmusik revolutionieren. Die richtigen Voraussetzungen dafür hat er jedenfalls.«

    »Mh. Vielleicht wird er aber auch einfach nur Metzger.« Mick trank einen Schluck von seinem Bier. »Es gibt nicht viele gute Metzger in Newcastle, weißt du? Das wäre ein Beruf mit Zukunft, und man hätte immer die besten Fleischstücke für sich …« Er schob sich ein großes Stück Steak in den Mund.
    Clara widmete sich wieder den Fotos. Sie betrachtete ein Reihenhaus in einer endlosen Straße absolut identischer Reihenhäuser unter einem schiefergrauen Himmel. Spärlicher, brauner Winterrasen im Vorgarten und eine violett gestrichene Haustür. Ein eigenwillig getöpfertes Schild neben der Klingel verkündete in Regenbogenfarben, dass dort Ann und Peter, Mickey und Katie Hamilton zu Hause waren.
    »Nicht mehr ganz aktuell, oder?« Clara deutete auf das Schild. »Aber süß. Mickey. Kommt das von Mickey Rourke oder von Mickey Maus?«
    »Weder noch!«, gab Mick in gespielter Entrüstung zurück, doch sein Hals färbte sich ein wenig rosa vor Verlegenheit. »Ich war ungefähr acht oder neun, als wir dort eingezogen sind. Katie konnte gerade so laufen.«
    Clara versuchte, sich Mick als kleinen Jungen vorzustellen, doch es gelang ihr nicht richtig. Sie wusste viel zu wenig über ihn, über seine Vergangenheit, eigentlich fast nichts. Er hatte ihr nur erzählt, dass er englische Literatur studiert hatte und dann vor etwa zehn Jahren nach Deutschland gekommen und irgendwie hier hängengeblieben war. Nach diversen Jobs hatte er angefangen, im Murphy’s zu arbeiten. Als nach einiger Zeit Owen McMurphy, der alte Inhaber des Pubs, zurück nach Irland gegangen war, hatte er das Lokal übernommen. Das war die ganze Geschichte gewesen, bisher. Und jetzt breitete sich seine frühere, noch gänzlich unbekannte Geschichte vor Clara aus. Sie spürte, dass es von Bedeutung war, dass er ihr jetzt mit diesen Bildern davon erzählen
wollte. Und es machte ihr Angst. Bisher hatte ihnen die Gegenwart genügt. Ein paar Details aus ihren früheren Leben, ja schon, ab und zu ins Gespräch eingeflochten, wobei, und das fiel Clara ebenfalls erst in diesem Augenblick auf, sie stets mehr erzählt hatte als Mick. Einen schwachen Moment lang war sie versucht, ihm dies anzulasten. Sie war versucht, die Verantwortung für ihre etwas vage gehaltene Beziehung allein ihm anzulasten, der so lässig und unkompliziert damit umging, keine Fragen und keine Pläne zu haben schien. Doch ehrlicherweise musste sie sich eingestehen, dass sie ebenso die Verantwortung dafür trug. Es war ihr sehr entgegengekommen, dass Mick keine

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