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Seelengift

Titel: Seelengift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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mehr so jungen, die nicht wussten, wie sie miteinander umgehen sollten. Es gab kein Verbindungsglied mehr zwischen ihnen, keinen Anknüpfungspunkt. Und er hatte keine Ahnung, wie er das ändern sollte.

    Sie hatten die Leopoldstraße erreicht, und Armin blieb stehen. »Von hier zum Nordfriedhof ist es nicht mehr weit …«, begann er und verstummte dann mitten im Satz.
    Gruber verstand auch so. »Bist du sicher, dass du da hin willst?«
    »Ja.« Armins Blick war starr geradeaus gerichtet.
    Im ersten Augenblick war Gruber versucht, es ihm auszureden, doch dann ließ er es sein. Er konnte den Wunsch seines Sohnes verstehen. Ihm selbst jedoch wurde fast schwindlig bei der Vorstellung, noch einmal dort hinzugehen. Noch einmal an die Böschung zu treten und hinunterzusehen. Doch das durfte er Armin nicht sagen. Er würde es schon durchstehen. Seinem Sohn zuliebe. Gruber zog die Schultern hoch und versuchte, sich innerlich zu wappnen, während sie stumm weitergingen. Als die Mauer des Friedhofs in Sicht kam, wurde sein Widerwille davor, zu diesem Ort zurückzukehren, so stark, dass er am liebsten umgedreht wäre. Er senkte den Kopf, damit Armin sein Gesicht nicht sehen konnte, und beschleunigte trotzig seinen Schritt. »Wir sind gleich da.«
    Als sie jedoch den Bach erreichten und die kalte, stille Einsamkeit dieses Ortes ihn wieder umfing, vergaß Gruber, dass er für seinen Sohn hatte stark sein wollen. Stattdessen sah er sich selbst, wie er am vergangenen Freitag dort angekommen war, vollkommen ahnungslos …
    »Papa!« Die Stimme drang entfernt an sein Ohr. »PAPA!«
    Gruber schüttelte sich. »Was ist?«
    Er kniete mitten auf dem Weg. War buchstäblich in die Knie gegangen. Seine Hände stützten sich auf dem gefrorenen Boden ab. Er konnte die harten Kiesel unter seinen Fingern spüren und nahm die Hände weg.
    Armin kauerte vor ihm in der Hocke und hatte ihn an den Schultern gepackt »Geht’s dir gut?«

    »Ob’s mir gut geht?« Gruber begann zu lachen. Er wischte sich die kleinen Steine von den Händen und versuchte aufzustehen. »Freilich geht’s mir gut, Armin.« Er lachte noch immer, während Armin ihm mühsam auf die Beine half. Er konnte nicht aufhören zu lachen, er lachte und lachte, bis ihm endlich die Tränen kamen.
     
    Später, am Abend, saß Gruber in der Küche und starrte auf das halbleere Bierglas vor sich. Armin war längst in sein Zimmer gegangen, sein altes Kinderzimmer, das jetzt eher eine Art Abstellkammer war. Gruber hatte nicht die Kraft dazu aufgebracht, es vor der Ankunft seines Sohnes herzurichten. Nicht dass er es nicht versucht hatte. Nach dem Anruf, diesem Anruf am Freitag, dem schwersten seines Lebens, als er seinem Sohn hatte sagen müssen, was passiert war, hatte er sofort danach an das Gerümpel in dem Zimmer gedacht. Er war sogar aufgestanden, hatte das Bügelbrett gepackt und den alten Hometrainer seiner Frau und hinaus auf den Flur gestellt. Doch zu mehr hatte es nicht gereicht. Beides stand noch immer dort, mitten im Flur, und man musste sich daran vorbeiquetschen, wenn man in das Zimmer hineinwollte.
    Gruber wusste nicht, ob Armin schon schlief. Oder ob er einfach nur dalag und in die Dunkelheit starrte, so wie er hier in der Küche? Half es, wenn zwei Menschen die gleiche Leere in sich fühlten? Half es ihnen dabei, sich einander näher zu fühlen? Heute Nachmittag hatte er es fast geglaubt. Nachdem er sich von seinem lächerlichen Anfall wieder erholt hatte, hatte er Armin die Stelle gezeigt, wo man sie gefunden hatte. Er hatte den Arm um seinen Sohn gelegt, und es hatte sich ganz richtig angefühlt. Vertraut. Sogar ein bisschen tröstend. Aber der Augenblick war schnell vorüber gewesen. Und im Grunde wusste er es: Es war nicht die gleiche Leere, die
sie fühlten. Jeder fühlte seine eigene Leere, seinen eigenen Schmerz, und der andere hatte dort keinen Zutritt.
     
    Er trank sein Bier aus, das bereits schal geworden war, und versuchte, an etwas anderes zu denken. Etwas, das ihm ebenfalls heute Nachmittag wieder eingefallen war: dieses merkwürdige Déjà-vu, was den Fundort der Leiche anbelangte. Im Winter vor einem Jahr hatte man an der gleichen Stelle ebenfalls eine Leiche gefunden. Es war ihm ja bereits aufgefallen, als Kollegin Sommer ihn an jenem Morgen über den Leichenfund informiert hatte. Doch dann hatte die schreckliche Tatsache, dass es sich um Irmi handelte, alles andere aus dem Bewusstsein verdrängt. Heute Nachmittag, als sie dort an der Uferböschung

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