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Seelengift

Titel: Seelengift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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trotzdem.

    »Mag sein.« Mick nahm die Fotos und schob sie auf einen Haufen zusammen. »Aber das hätte sie sich vorher überlegen sollen.« Seine Stimme klang unbeteiligt, aber darunter lauerte eine bei ihm völlig ungewohnte, ätzende Schärfe.
    Clara schwieg betreten. Unverhofft waren sie auf dünnes Eis geraten, und sie wusste nicht, welche Richtung sie einschlagen sollte, um die Gefahrenstelle zu verlassen.
    Doch Mick half ihr. Er trank sein Bier aus, schüttelte sich wie ein Hund und lächelte dann. »Genug Familie für heute. Was meinst du, sollen wir noch ein bisschen um die Häuser ziehen?«
    Clara warf ihm einen prüfenden Blick zu. Sein Lächeln war vollkommen unbefangen, in seiner Stimme keine Spur mehr von Bitterkeit. Sie nickte und gab ihm einen Kuss. Als sie hinausgingen und die eiskalte, klare Nacht ihnen fast die Luft zum Atmen nahm, kam ihr der Gedanke, dass Micks lässige Art, die Dinge hinzunehmen, wohl auch nichts anderes als eine Maske war, um Ängste und Verletzungen zu verbergen.

NEUN
    Am Montagmorgen ging Clara zu Fuß von Micks Wohnung in Neuhausen in die Kanzlei. Es war noch sehr früh, erst kurz nach sieben, und der Himmel begann sich gerade langsam vom kalten Nachtblau in ein zaghaftes Blauviolett zu verfärben. Es würde noch eine Weile dauern, bis die Sonne aufging. Die Nymphenburger Straße war in Kälte erstarrt, und die an den Ampeln wartenden Autos dampften ihre Abgase wie Nebel in die Luft. Clara mochte diesen Weg durch die halbe Stadt, der mittlerweile schon zu einer Montagmorgengewohnheit geworden war. Tief in Schal und Mütze vergraben, trabte sie mit Elise an der Seite die endlos lange, selbst um diese Uhrzeit schon geschäftige Straße entlang bis zum Stiglmaierplatz und gelangte dann nach einer ganzen Weile flotten Marsches endlich zur liebsten Stelle ihres Weges: dem Königsplatz. In der Morgendämmerung wirkten die klassizistischen Gebäude und der leere, weite Platz dazwischen wie eine unwirkliche Theaterkulisse. Kein Mensch war um diese Zeit hier zu Fuß unterwegs, und selbst die Autos, die in einem Oval um den Platz herum über das Kopfsteinpflaster rumpelten, wirkten verloren, so fehl am Platz wie unpassende Requisiten. Clara fühlte sich jedes Mal, wenn sie frühmorgens hier vorbeikam, wie auf einem anderen Stern. Die Woche, die vor ihr lag, rückte in weite Ferne, nichts schien drängend, nichts wichtig. Im Sommer legte sie hier immer eine kurze Pause ein, setzte sich auf die noch nachtkalten Stufen der Antikensammlung
oder der Glyptothek, rauchte eine Zigarette und ließ so den Tag beginnen. Doch bei den gegenwärtigen Temperaturen war an eine Pause nicht zu denken, und selbst wenn sie es trotzig versucht hätte, wäre sie von Elise, die vom Herumstehen in einer solchen Saukälte rein gar nichts hielt, so lange vorwurfsvoll gestupst und angewinselt worden, dass sie nicht einmal die Muße gehabt hätte, sich eine Zigarette auch nur anzuzünden. Sie überquerte den Platz und bog dann nach rechts in Richtung Alter Botanischer Garten ab.
     
    Als sie schließlich mit frostrotem Gesicht und feucht gekräuseltem Haar in der Kanzlei ankam, war es kurz vor halb neun, und Linda war schon da.
    Adrett wie eh und je, mit sanft getöntem Teint und einem für ihre Verhältnisse rustikalen Wollpullover, der allerdings auf Taille gestrickt und aus weicher anschmiegsamer Wolle war, saß Linda am Schreibtisch und strahlte Clara an. »Guten Morgen!«
    Clara strahlte zurück, während Elise sich hastig an ihr vorbeidrückte und schnurstracks den bereits warm lodernden Schwedenofen ansteuerte. »Schönen Urlaub gehabt?«
    Linda nickte, und ihr Strahlen vertiefte sich noch ein wenig. »Sehr schön.« Dann deutete sie mit dem Kopf in Richtung von Claras Schreibtisch. »Sie haben Besuch.«
    Claras Blick wanderte nach oben. Tatsächlich, dort stand jemand und strich Elise, die ihn neugierig von allen Seiten begutachtete, mit einer etwas abwesenden Geste über den Kopf. Es war Walter Gruber.
    »Oh. Guten Morgen!«, rief Clara hinauf und hängte hastig ihren Mantel an den Haken neben der Tür. »Warten Sie schon lange?«, fragte sie, während sie die wenigen Stufen nach oben ging und ihm die Hand reichte.

    Er schüttelte stumm den Kopf.
    Clara musterte ihn besorgt. Er sah schlecht aus, grau und müde, und seine Augen waren rotgeädert. Wahrscheinlich hatte er seit Tagen nicht mehr richtig geschlafen.
    »Möchten Sie Kaffee?« Er nickte, noch immer schweigend, und Clara ging in die kleine

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