Seelengift
Ansprüche an sie stellte, nicht alles mit ihr teilen wollte. Sie hatte es immer auf ihren Altersunterschied geschoben, darauf, dass eine solche Beziehung ohnehin nur für den Augenblick war und keine übermäßige Nähe und vor allem keine Zukunftspläne aushielt. Doch in Wahrheit war sie es, die es nicht ertrug, an die Zukunft zu denken. Deswegen hatte sie Mick keine Fragen gestellt, nichts über seine Familie wissen wollen, nichts über seine Vergangenheit, sein Leben in England.
Ihr Blick fiel zurück auf das Foto in ihrer Hand. Es waren keine Menschen darauf zu sehen, kein Klein-Kurt im Kinderwagen oder Ähnliches, einzig dieses Reihenhaus mit der violetten Tür. Es gab nur einen Grund, weshalb Mick dieses Foto geschossen hatte: um es ihr zu zeigen. Um ihr zu zeigen, wo er herkam. Und tatsächlich, es gab noch mehr solche Fotos. Ein heruntergekommenes Gebäude von gnadenloser Hässlichkeit, Micks alte Schule, in der sein Vater noch immer unterrichtete. Eine Straße, bunt und etwas schäbig, mit kleinen Geschäften links und rechts und an der Ecke ein Haus, in dem Mick während des Studiums einige Zeit im obersten Stock gewohnt hatte, und ein winterlich stiller Park mit Blick auf
den Tyne. Dann natürlich die Tyne Bridge, der Hafen und ein schickes Ausgehviertel mit Restaurants und Clubs, das offenbar ziemlich neu war und zu Micks Zeit noch nicht existiert hatte. Clara sah sich alle Fotos genau an und ließ sich zunehmend von Micks mal witzigen, mal melancholischen und teilweise haarsträubenden Anekdoten zu jedem einzelnen Bild gefangennehmen. Fast bereute sie es, nicht doch mitgekommen zu sein. Offenbar hatte ihm viel mehr daran gelegen, als sie gedacht hatte.
Nein. Das war nicht richtig. Schon wieder versuchte sie, sich etwas vorzulügen: Eigentlich hatte sie es gewusst. Und ignoriert. Oder anders gesagt, genau dieser Umstand, dass es ihm wichtig gewesen war, hatte sie veranlasst, so vehement abzulehnen. Warum war immer alles so kompliziert? Clara unterdrückte einen Seufzer und griff nach dem nächsten Bild. Auf dem Foto saß Mick rauchend auf einer Bank im Park, die langen Beine ausgestreckt, und hielt sein Gesicht in die blasse Sonne. Neben ihm saß ein Mann, den Clara sofort als seinen Vater identifizierte. Ebenso groß und schlaksig wie er, die gleiche Haarfarbe, nur ein wenig grau an den Schläfen, die gleichen Wangenknochen, dasselbe kantige Kinn.
»Dein Vater?«, fragte Clara trotzdem.
Mick nickte. »Ja. Peter.«
»Du nennst ihn Peter? Nicht Dad oder so?«
Mick schüttelte den Kopf. »Nein. Das war … vor allem Ann, also meine Mutter, wollte das nicht. Sie wurde immer sehr wütend, wenn ich sie als Kind Mummy nannte. Schon als wir ganz klein waren, durften wir sie nur beim Vornamen nennen.« Er zuckte mit den Schultern. »Das war wohl in ihren Kreisen so üblich.«
»Was waren das denn für Kreise?«, hakte Clara etwas irritiert nach.
»Ach, superalternativ, superpolitisch, antiautoritär. So was eben.« Micks Mitteilungsbedürfnis schien plötzlich versiegt zu sein.
Clara musterte ihn neugierig. »Hast du auch ein Bild von ihr? Von Ann?«
Mick begann zu kramen und legte ihr schließlich ein Foto hin, auf dem Katie, das Baby im Arm, neben einer dunkelhaarigen Frau saß und sich angeregt mit ihr unterhielt. Anders als die meisten anderen Fotos war es ein Schnappschuss, eher beiläufig gemacht, und die beiden Frauen schienen die Kamera nicht zu bemerken.
Clara hielt die Luft an, als sie Micks Mutter betrachtete. Sie sah umwerfend gut aus. Dichtes, langes Haar, offen und in der Mitte gescheitelt, wie bei einem Hippie aus den Siebzigerjahren, und ein so klassisch schönes Profil wie eine Madonna. Zu allem Überfluss sah sie unglaublich jung aus, wenn man bedachte, dass sie jetzt schon Großmutter war.
»Wie alt ist deine Mutter?«, fragte Clara, und ihre Stimme klang etwas kläglich.
Mick überlegte einen Augenblick. »Ich glaube, sie ist … ja, dreiundfünfzig.«
Clara schluckte. Zehn Jahre. Nur zehn Jahre älter als sie selbst. Plötzlich war sie wieder froh, nicht mitgefahren zu sein. Es war definitiv die richtige Entscheidung gewesen. Sie legte das Foto weg.
»Sie sieht toll aus«, murmelte sie. »Wie Ali MacGraw.«
»Ja«, gab Mick wortkarg zurück. Über seine Mutter schien er definitiv nicht sprechen zu wollen.
»Sie war erst neunzehn, als du geboren wurdest. Wahrscheinlich hat sie sich damals einfach noch zu jung gefühlt, um Mama genannt zu werden?«, versuchte Clara es
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