Seelengift
immer so wütend, dass er hätte weinen können, doch er durfte nicht weinen. Denn wenn er weinte, dann sagte seine Mutter, er mache ihr solchen Kummer. Immer mache er ihr nur Kummer. Erst räume er sein Zimmer nicht auf und dann, wenn es sie, die auch sonst schon genug Arbeit hatte, für ihn tun müsse, nur weil er zu faul dafür war, dann weine er auch noch, obwohl sie es doch nur gut mit ihm meinte. In solchen Fällen machte sie dann ein ganz trauriges Gesicht und sagte, sie sei so enttäuscht von ihm, weil er sie immer absichtlich traurig mache, und zur Strafe müsse er ohne Abendessen ins Bett, so habe er genug Zeit, darüber nachzudenken, was er ihr angetan habe.
In seinem Traum jedoch war das nicht so. In seinem Traum konnte er stundenlang auf dem Perserteppich spielen, und niemand störte ihn. Es war ein paradiesisches Gefühl, und er war so glücklich in seinem Traum wie noch nie. Immer wilder und aufregender wurden seine Spiele, es gab Höhlen unter dem Sofa, dort hausten Monster, die er besiegen konnte, und es gab den kleinen Jungen auf der anderen Seite der Teppichwelt, der sein Freund sein wollte. Doch der Junge konnte sich nicht bewegen, er war verzaubert, und er musste ihn retten. Aber in dem Moment, in dem er versuchte, ihm über die verschlungenen Pfade des Perserteppichs hinweg das Mittel gegen den bösen Zauber zu bringen, bekam das Spielparadies einen Riss: Der Schlüssel drehte sich in der Tür im Flur. Seine Mutter kam nach Hause. Er erstarrte.
Im Traum wanderte sein Blick von seiner dunkelblauen Cordhose zu den unzähligen Spielsachen auf dem wertvollen Teppich. Die Kekskrümel, die kleinen Limodeckel voll mit
Wasser als Tränken für die Tiere. Sein Herz begann zu klopfen, und er wusste, er würde den kleinen verzauberten Jungen im Stich lassen müssen. Er musste aufräumen. So schnell es ging. Und er begann, seine Spielsachen zusammenzuraffen, so wie es seine Mutter immer tat, alles durcheinander, schnell, schnell, die Schälchen mit Wasser kippten um und hinterließen hässliche, große Flecken auf dem Teppich, genau neben einem dunkelblauen Schnörkel. Er raffte und stopfte, immer wieder entdeckte er etwas, griff danach, begann zu schwitzen, während die Schritte seiner Mutter näher kamen. Endlich hatte er alles in seine Hose gestopft. Jetzt sah er tatsächlich aus wie ein Kartoffelsack. Nur den kleinen verzauberten Plastikjungen am anderen Ende des Teppichs konnte er nicht mehr erreichen, denn nun ging die Tür auf, und seine Mutter kam herein.
In seinem Traum herrschte in dem Moment vollkommene Stille. Er sah ihre Beine, die in hochhackigen Schuhen steckten, er wagte nicht, den Kopf höher zu heben, hatte Angst, in ihr Gesicht zu blicken. Sie sagte nichts, aber er spürte ihren Blick auf sich ruhen, und er wusste, dass sie die Spielsachen in seiner Hose, in den Taschen, vorne im Latz, entdeckt hatte. Sie entdeckte immer alles. Nichts ließ sich vor ihr verbergen. In Erwartung der Strafe senkte er den Kopf noch mehr, erwartete jeden Moment ihre kalte, enttäuschte Stimme zu hören, doch stattdessen vernahm er nur ein einziges Geräusch: ein hässliches Knirschen, als die Mutter auf den kleinen Jungen trat, der dort vor ihren Füßen stand.
Er erwachte mit heftigem Herzklopfen. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass es erst halb fünf war. Draußen war noch stockfinstere Nacht. Schwer atmend schälte er sich aus dem Laken und stand auf. Der Schlafanzug klebte feucht an seinem
Körper, und er war von kaltem, schmierigem Schweiß überzogen wie von einem Film. Zitternd und voller Ekel vor sich selbst ging er ins Bad, um sich zu waschen. Er drehte den Hahn in der Dusche so heiß auf, wie er es gerade noch ertragen konnte, und stellte sich unter den harten Strahl. Das Wasser nahm ihm fast den Atem, doch es tat gut. Er blieb lange so stehen, die Augen geschlossen, die Arme schlaff herunterhängend. Vielleicht konnte er den Traum wegwaschen. Konnte seine Gedanken verbrühen, bis sie sich in Dampf auflösten. Diese schrecklichen, beunruhigenden Gedanken, die sich immer wieder durch seinen Kopf gruben, seine Eingeweide verschnürten, sein Herz fast zum Zerspringen brachten.
Was sollte dieser Traum? Was sollte er jetzt? Warum träumte er plötzlich davon, wieder ein Kind zu sein? Es war vorbei. Seine Kindheit war vorbei, längst schon, und seine Mutter war tot. Alles tot und vergessen. Aber es half nichts. Er wusste, warum er diesen Traum hatte, und er wusste auch, warum er ihn ausgerechnet
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