Seelengift
Skiurlaub gebeten hatte.« Clara ließ sich auf ihren Stuhl fallen und schaltete den Computer ein.
»Aber …«, begann Linda, doch nach einem Blick in Claras ungnädiges Gesicht besann sie sich eines Besseren und ging schweigend nach unten zu ihrem Platz, wo ein Stapel grauer Ablageordner säuberlich nach Monaten geordnet auf sie wartete. Willi war ebenfalls aufgestanden und sah Clara verärgert an.
»Was?«, schnappte Clara. »Willst du Linda nicht beim Tragen helfen?«
»Doch, genau das werde ich tun«, gab Willi kühl zurück. »Vorher nur noch eine Kleinigkeit.« Er deutete auf Claras Schreibtisch, wo sich neben dem PC die Akten türmten. »Vielleicht wirfst du mal einen Blick darauf: Die Akte, die du so dringend suchst, liegt schon seit fast zwei Wochen da.« Und dann ging er nach unten, nahm Linda einen Teil der Ordner ab und verschwand mit ihr im Keller.
Clara zog die Akte Schneider gegen Schneider aus dem Stapel. Sie war für die Wiederaufnahme bereits mit einem neuen Aktendeckel und ordentlicher Beschriftung versehen und trug dazu noch einen Post-it-Zettel mit einem handschriftlichen
Vermerk von Linda: Sie war unter 2007 gerutscht, darum konnte ich sie nicht gleich finden. Tut mir leid. Bis in einer Woche, liebe Grüße, Linda!
Sie hatte also noch am Abend vor ihrem Skiurlaub den ganzen Keller abgesucht, die Akte wieder neu angelegt und sie ihr auf den Schreibtisch gelegt. Und Clara hatte es nicht mal bemerkt. »Scheiße«, murmelte sie und warf den Ordner zurück auf den Stapel. Das machte ihre Laune nicht besser. Sie durchforstete ihren Terminkalender, der gottlob für diesen Vormittag leer war, starrte einen Augenblick unschlüssig die Akten an und überlegte, dass sie vielleicht besser daran tat, Linda und Willi jetzt nicht gegenüberzutreten. Sie würde sich entschuldigen müssen. Ja, wohl oder übel. Aber nicht jetzt. Sie zog Grubers Akte über Gerlinde Ostmann aus ihrer Tasche und machte sich ein paar Notizen. Dann stand sie auf und gab der leidgeprüften Elise, die es entschieden vorgezogen hätte, vor dem Ofen liegen zu bleiben, einen Klaps auf ihr Hinterteil. »Komm, Süße, noch einen kleinen Spaziergang.«
Als Willi und Linda wieder aus dem Keller auftauchten, konnten sie gerade noch miterleben, wie Clara die Tür so schwungvoll hinter sich zuschlug, dass die großen Fensterscheiben des alten Ladengeschäfts erzitterten.
Clara fuhr mit der U-Bahn zum Bonner Platz und ging von dort zu Fuß weiter. Es war nicht sehr weit, nur eine Querstraße weiter befand sich das Geschäft, in dem Gerlinde Ostmann zwanzig Jahre gearbeitet hatte: Hartmann Berufskleidung war in nüchternen Lettern über der Tür zu lesen, und im Fenster standen zwei Schaufensterpuppen, eine als Koch gekleidet und eine als Automechaniker. Clara zögerte hineinzugehen. Sie sah sich um und ging stattdessen in die Einfahrt
neben dem Geschäft, die in einen überraschend großen Hinterhof führte. Der rückwärtige Teil des Gebäudes, in dem sich der Laden befand, beherbergte offenbar die Büroräume der Firma Hartmann. Es gab einen rückwärtigen Eingang mit der Klingelaufschrift Firma Hartmann - Verwaltung. Clara konnte einen Blick auf eine junge Frau vor einem PC erhaschen und daneben ein hohes Regal, das bis zur Decke mit einheitlich gelben Ordnern vollgestellt war. Neben einigen Firmenparkplätzen gab es in dem Hinterhof noch ein niedriges, eingeschossiges Rückgebäude, in dem früher offenbar die Produktion der Firma untergebracht gewesen war. Jetzt stand es leer, und über der Tür war ein Schild angebracht, auf dem unter dem Schriftzug der Firma Hartmann die neue Adresse der Produktion und Fertigung zu lesen war, ein neu ausgewiesenes Gewerbegebiet in Unterföhring. Clara hatte davon gehört, es hatte damals ebenso heftige wie vergebliche Proteste von Anwohnern und Naturschützern gegeben, als dieses weitläufige Gelände unweit der Isarauen von der Gemeinde Unterföhring zum Gewerbegebiet erklärt worden war. Sie schaute sich um. Für die Firma Hartmann hatte die Verlagerung der Produktion aus der Stadt hinaus sicher erhebliche Vorteile gebracht.
Sie ging zurück auf die Straße und musterte noch einmal den Laden, der zwischen den Modegeschäften und Cafés der belebten Straße schmal und unscheinbar wirkte. Entschlossen drückte sie die Tür auf. Der Verkaufsraum war ein langer dunkler Schlauch, gesäumt von Regalen, in denen sich die Kleider in nach Größe und Sorte geordneten Stapeln bis an die Decke türmten.
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