Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Seelengift

Titel: Seelengift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
Vom Netzwerk:
Brauen und einem bitteren Lächeln um den Mund, und gemeint: »Na, hast wieder mal deinen Willen bekommen, was? Hättest deiner Mutter ruhig auch einmal eine Freude machen können.« Da hatte er sich sofort wieder schlecht gefühlt, weil er seiner Mutter nicht einmal diesen kleinen Gefallen hatte tun können. Weil es ihm immer nur um sich ging, weil er immer seinen Kopf durchsetzen musste und weil er sich gerade so glücklich gefühlt hatte. Und so war seine Freude über das Akkordeonspielen immer mit einem unterschwelligen schlechten Gewissen seiner Mutter gegenüber gewürzt gewesen. Das war auch der Grund, weshalb er sich immer so besonders angestrengt
hatte. Er war bald der beste Schüler in seiner Gruppe und durfte im Orchester der Musikschule mitspielen. Sein Vater war stolz auf ihn. Seine Mutter nicht. Sie ging zwar mit auf die Konzerte, doch auch wenn sie klatschte, langsam und distanziert, blieb immer dieser spöttische Zug um ihre Mundwinkel, und wenn sie Freunden gegenüber erwähnte, dass ihr Sohn Akkordeon spielte, klang es immer ein wenig verächtlich, so als müsse man sich dafür schämen.
     
    In seinem Traum ging es jedoch nicht um Musik. Er war viel kleiner, vielleicht vier, fünf, und hatte von einem Akkordeon wohl noch nie etwas gehört. Der Traum war so plastisch und wirkte so echt, dass er die dunkelblaue Cord-Latzhose spüren konnte, die er damals trug. Sie spannte ein bisschen an den Trägern, denn er saß am Boden, vornübergebeugt, und spielte. Seine Mutter mochte es nicht gerne, wenn er am Boden spielte, sie war der Meinung, dafür gebe es den Tisch in seinem Kinderzimmer, doch es war nicht das Gleiche, an einem Tisch zu spielen oder auf dem Boden. Ein Tisch war immer nur ein Tisch, egal, was man darauf aufbaute, doch mit dem Boden war es anders: Der Fußboden war geheimnisvoll, er konnte sich in einen Dschungel voll wilder Tiere verwandeln, die hinter den Bettpfosten lauerten, oder in einen Wald mit einer Hexe, die ihre Hütte unter einem umgedrehten Bilderbuch hatte und nur darauf wartete, dass der kleine Plastikjunge, der sich in dem Wald verirrt hatte, in ihre Nähe kam. Und der beste Platz für solche Spiele war nicht sein Kinderzimmer, sondern das Wohnzimmer und dort der große Perserteppich mit seinen verschlungenen Mustern. Es gab Wege darauf, die gerade eben noch verborgen gewesen waren und die plötzlich erschienen, wenn er seine kleinen Figuren dort hinstellte. Es gab Zauberblumen auf diesem Teppich,
die einen in einen Drachen verwandeln konnten, wenn man davon kostete, und es gab in der Mitte des Teppichs ein großes Rund aus komplizierten Linien, das einen Schatz verbarg, den nur derjenige entdecken konnte, der das Geheimnis dieser Linien lüftete.
    In seinem Traum spielte er auf diesem Teppich, was eine Sache war, die er sich in seiner Kindheit, soweit er sich erinnern konnte, nie getraut hatte. Er war zwar manchmal in unbeobachteten Momenten darauf gesessen, hatte mit den Fingern die weichen, kurzflorigen Muster nachgezogen und sich die spannendsten Spiele ausgedacht, aber nie, nie hatte er es gewagt, sie tatsächlich in die Tat umzusetzen. Man spielte im Kinderzimmer und nur dort. Das war ein Gesetz. »Das Kinderzimmer heißt Kinderzimmer, weil es das Zimmer ist, in dem Kinder sich aufhalten.« Einer der Lieblingssätze seiner Mutter, er flüsterte den Satz noch heute manchmal, wenn er an der Tür zu seinem alten Kinderzimmer vorbeiging. Doch in seinem Traum war er mutiger als in der Realität. Er hatte alle seine Figuren, die Tiere und Indianer aus Weichplastik, die Autos und die anderen kleinen Spielsachen, die er immer von seinem Vater geschenkt bekam, wenn er von seinen Reisen zurückkam, ins Wohnzimmer getragen und dort auf dem Teppich aufgebaut. Es gab ein kleines Haus für die Familie, aus Bauklötzen, daneben einen Teich aus einer blauen Serviette, einen kleinen Zoo mit Kekskrümeln als Futter für den Tiger und den Eisbären und ein Indianerreservat, wo sich die Cowboys mit den Indianern auf den scheckigen Pferden bekriegten. In seinem Traum war es ein wundervolles Spielen. Niemand war da, nur er, niemand störte ihn.
    Normalerweise kam seine Mutter immer in sein Zimmer und verlangte, wenn er gerade mitten in einer schönen Geschichte war, alles aufzuräumen, damit das Zimmer nicht
wie ein Schweinestall aussah, und wenn er nicht sofort gehorchte, griff sie mitten hinein in seine aufgebauten Welten und warf alles zurück in die große Krimskramskiste. Er wurde dann

Weitere Kostenlose Bücher