Seelengift
jetzt hatte: Er war eine Warnung. Er warnte ihn davor, dass etwas Schreckliches passieren würde. Es war noch lange nicht vorbei, im Gegenteil, die Jagd hatte gerade erst begonnen, und die Jäger waren mehr geworden, sie wurden jetzt von dieser rothaarigen Frau angeführt, die keine Ruhe geben würde, die ihn suchen und hetzen und schließlich einkreisen würde, wie einen halbtoten Fuchs. Seine Knie gaben nach, und er rutschte die dampfenden Fliesen hinunter auf den Boden. Er zitterte trotz der Hitze, und ihm wurde klar, dass er nicht mehr tatenlos zusehen konnte, bis sie ihn in der Falle hatten. Er musste etwas unternehmen.
DREIZEHN
Als Clara am nächsten Morgen aufwachte, war es eiskalt in ihrem Schlafzimmer. Zu allem Übel hatte sich Elise nicht nur in ihr Bett, sondern sogar unter ihre Bettdecke verkrochen und Clara damit den größten Teil derselbigen entzogen. Clara zerrte vergeblich an einem verbliebenen Zipfel der Decke, gab es dann jedoch auf und stieg seufzend aus dem Bett. Sie erschauerte, als ihre nackten Füße den eiskalten Boden berührten, und prüfte die Heizung. Nicht ein Hauch von Wärme. Wieder einmal muckte die verdammte Heizungsanlage. Das war nun schon das dritte Mal in diesem Winter. Sie würde den Hausmeister anrufen müssen und sich wieder einmal seine dummen Sprüche anhören dürfen. Leo Manninger, dessen hausmeisterliche Fähigkeiten sich auf gelegentlichen Glühbirnenwechsel in den Treppenhäusern und seltenes, äußerst bedächtiges Schneeräumen - wenn Schnee vorhanden war - beschränkten, war mit etwas so Kompliziertem wie einer Heizung schlichtweg überfordert. Nichtsdestotrotz weigerte er sich jedes Mal mit dumpfer Starrsinnigkeit, die Wartungsfirma anzurufen, bevor er nicht selbst »die Sach« kontrolliert hatte, was sich jedoch angesichts seiner Gewohnheit, schon vor dem Frühstück die erste Halbe Bier zu konsumieren, erheblich in die Länge ziehen und am Ende zu keinem befriedigenden Ergebnis führen würde. Clara schlotterte und zog sich ihren alten Bademantel über ihr T-Shirt. Elise rührte sich nicht. Diese verhasste Kälte, die sich nun auch noch in ihrer
Wohnung breitgemacht hatte, brachte sogar ihre natürlichen Fressinstinkte nahezu zum Erliegen. Stattdessen wühlte sie sich jetzt, nachdem Clara aufgestanden war, nur noch tiefer in das warme Bett, robbte nach oben, bis sie das Kopfkissen erreicht hatte, und bettete mit einem zufriedenen Schnaufer ihren großen Kopf darauf.
Nach dem unbefriedigenden Telefonat mit Herrn Manninger, der Clara mit den Worten begrüßte: »Was glauben S’ denn, die wievielte Sie heut schon sind?«, und das mit dem wenig vielversprechenden: »Ich werd’ mich um die Sach’ kümmern!« endete, schlüpfte Clara schlotternd in ihre wärmsten Kleidungsstücke, packte ihre Bürotasche und hoffte gegen alle Vernunft, dass die »Sach’« mit der Heizung bis zum Abend geregelt war.
In der Kanzlei war es mollig warm. Linda und Willi saßen bei einer Tasse Kaffee an Willis Schreibtisch und unterhielten sich angeregt, als Clara und Elise zusammen mit einem Schwall kalter Luft hereinkamen.
»Schon so früh heute?«, begrüßte sie Willi mit einem Blick auf die Uhr. »Was hat dich denn aus dem Bett geworfen?«
»Sicher etwas anderes als dich«, gab Clara schlechtgelaunt zurück und ließ ihren Blick missbilligend über die aufgeschlagene Zeitung und die leere, krümelige Bäckertüte gleiten, die Linda auf Claras Schreibtisch liegen gelassen hatte. Zu allem Überfluss saß sie auch noch auf ihrem Stuhl. Clara packte die Zeitung und das Papier und platzierte beides auf Willis Tisch. Dann griff sie ungnädig nach ihrem Stuhl, den Linda nach einem Blick in Claras Gesicht hastig geräumt hatte, schob ihn wieder zurück hinter ihren eigenen Tisch und fegte demonstrativ die noch verbliebenen Krümel von der Tischplatte. Sie
hasste es, wenn sich jemand an ihrem Schreibtisch zu schaffen machte. Und sie hasste es, jetzt, ausgerechnet jetzt, an diesem verdammt kalten Morgen, an dem sie noch nicht einmal hatte heiß duschen können, mit dem Thema Willi und Linda konfrontiert zu werden.
»Ich möchte das Kaffeekränzchen ungern stören, aber haben Sie nichts zu tun?«, fauchte sie Linda an. »Wie wäre es mit der Ablage vom letzten Jahr? Die Ordner gehören schon längst in den Keller. Und wenn Sie schon mal unten sind, könnten Sie freundlicherweise nachschauen, ob Sie die Akte Schneider gegen Schneider aus 2008 finden, um die ich Sie schon vor Ihrem
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