Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless
aus, den sie dann LEBENSZIEL oder SINN DES LEBENS betiteln. Also keine Angst, du kannst gar nichts verlieren!« Bei diesen
Worten legt er mir die Hand auf den Oberschenkel, wahrscheinlich, weil es ihn so ergreift, mit einer verwandten Seele zu sprechen. Ich sehe ihn an, er nimmt die Hand weg und fummelt sich eine Zigarette aus der Schachtel.
»Und wozu dann das alles?« Ich mache eine weite Geste durch den Saal. »Ich meine alles, nicht nur diesen Club oder diese Stadt. Wozu lebt man überhaupt, wenn von Anfang an alles feststeht?«
»Um zu leben. Für die alltägliche Existenz. Es geht um den Prozess als Prozess. Um die alltäglichen Gefühle oder ihr Fehlen, um grundlose Freunde oder permanente Depression. Ich glaube daran, dass der Planet Erde diese ganze positive oder negative Energie braucht, die seine Bewohner absondern. Wahrscheinlich ist es diese Energie, die ihn antreibt und versorgt. Sonst würde er nicht Millionen missratener Kreaturen auf seiner Oberfläche dulden. Aber komm, lass uns lieber was zusammen trinken!«
»Warte mal, warte mal! Und was ist mit der Liebe? Ist das auch nur Fake?«
»Die traditionellen Formen des Verhältnisses zwischen den Geschlechtern, all diese geschmacklosen und unappetitlichen Beziehungen zwischen Männern und Frauen, sind doch restlos abgegessen. Nur hier in unserem patriarchalischen, unzivilisierten, engstirnigen Russland hängt man noch an diesen alten Zöpfen. Deshalb ist es für wirklich kosmopolitische – vor allem in intellektueller Hinsicht kosmopolitische – Menschen sehr schwer …«
Wieder legt er mir die Hand auf den Schenkel, und obwohl ich schon halb unzurechnungsfähig bin, begreife ich doch irgendwo in einem finsteren, nüchternen Winkel der
Rumpelkammer meines Bewusstseins, dass er das nicht aus der Emphase geistiger Verbrüderung heraus tut, sondern aus einem ganz anderen Grund. Und dieses Mal nimmt er sie auch nicht weg, als ich ihn ansehe. Nein, dieser Schlingel lässt seine Hand einfach liegen! Was halte ich denn davon? Ich schiebe die Hand zur Seite und sage laut in sein silberberingtes Ohr:
»Hör mal, Typ! Ich möchte dich doch sehr darum bitten, deine verdammten Pfoten von meinem Bein zu lassen!«
Aber er legt seine Hand einfach wieder zurück, so als hätte er mich gar nicht gehört, schaut mich mit einem schmachtenden Nuttenblick an und beginnt mich zu streicheln. Und dann flüstert er mir zu:
»Hör zu, mein Freund, dies ist ein ganz, ganz besonderer Moment. So etwas kann man nicht kaufen wie eine Nutte, auch nicht für dreihundert Dollar. Er kommt, oder er kommt nicht. Und ich weiß, dass du das brauchst, genau das und genau jetzt. Es gibt nur dich und deine Gefühle, alles andere ist unwichtig. Glaub mir, mein Freund.«
Sein Flüstern scheint mir viel zu heiß und irgendwie klebrig, und er redet immer weiter, wie besonders dieser Moment sei, und dass ich bereit sein müsse dafür, dass nicht jedem das Glück zuteilwerde, diese Erfüllung zu erleben. Für einen kleinen Augenblick verliere ich den Bezug zur Wirklichkeit, und er streichelt und flüstert immer weiter. Er wisse etwas, was ich nicht wisse, und ob ich bereit sei, ganz neue, nie gekannte Gefühle zu erleben. Dann sagt er: »Glaub mir, morgen schon wird es dir ganz normal vorkommen!« Dieser Satz trifft mich wie ein Schlag in die Magengrube. Ich stehe auf, fokussiere den Typen, dann sein beringtes Ohr, in
das ich vor wenigen Minuten noch hineingebrüllt habe, und bemerke, dass es das rechte Ohr ist. Alles klar? Er trägt diesen beschissenen Ring im rechten Ohr! Da kapiere ich endlich, dass er nicht ein einfühlsamer Weggenosse ist, den ein guter Wind auf meine Insel geweht hat. Dieser ganze wunderbare seelische Einklang, der mir wie ein Geschenk des Himmels erschien, gerade als ich es am nötigsten hatte, ist ein einziger Schwindel. Und dieser Scheißkerl ist ein ganz gewöhnlicher Homo, der in den Clubs auf Fischzug geht. Nur ein Idiot wie ich, vollgedröhnt und vollgesoffen, kann darauf reinfallen. Ich Hornochse habe ihm sein ganzes schleimiges Gesülze abgenommen, Wort für Wort. Dieser Typ hat skrupellos mein Bedürfnis ausgenutzt, mit einem Menschen zu reden, dem es nicht gleichgültig ist, was ich sage.
All das rast mir durch den Kopf, während ich jetzt vor ihm stehe, und er versucht dabei die ganze Zeit, mich wieder in den Sessel zu ziehen. Das bringt mich noch mehr in Rage, bis ich vor Wut schäume und ihm plötzlich mit einer für meinen Zustand erstaunlichen
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