Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless
Stroboskops tastet mal unsere Körper, mal unsere Hände ab und erzeugt einen irrwitzigen Lichteffekt. Von weitem müssen wir aussehen wie ein Götze aus finsterer Vorzeit, mit drei Köpfen und sechs Händen, die blitzschnell durch den Raum zucken. Entweder liegt es am Koks oder am Effekt des Stroboskops, jedenfalls bin ich mir sicher, mit den beiden Mädchen zu einem einzigen wabernden Kloß zu verschmelzen. Ich fühle es ganz deutlich: Ich habe sechs Hände! Ich bin ein zugekokster Gott Shiva. Und um mich herum kreisen die Köpfe der beiden Mädchen, mit vorquellenden Augen und riesigen, breit grinsenden Lippen, wie Sputniks um einen Planeten. Im Licht der farbigen Scheinwerfer leuchten ihre Gesichter sekundenlang auf und verschwinden wieder im dichten Schatten.
Und plötzlich begreife ich, warum ich die ganze Zeit so ein unangenehmes Gefühl im Nacken hatte, ein Gefühl, als würden mir riesige Kakerlaken über den Rücken kriechen: Ich spüre einen Blick auf meiner Haut. Ich drehe mich um und fange an, langsam und systematisch den Saal abzuscannen. Endlich reißt mein Blick in einer entfernten Ecke, in der Lounge-Zone, eine Gestalt aus dem Halbdunkel: ein Typ in einem blauen Anzug und leuchtend weißem Hemd, das fast bis zum Gürtel offensteht. Er liegt in einen Sessel ausgestreckt, die Beine übereinandergeschlagen, hält in der einen Hand ein Glas mit einer dunklen Flüssigkeit, das im
Takt der Musik schaukelt, während er sich mit der anderen das Haar aus der Stirn streicht. Im Schwarzlicht leuchtet seine Kleidung wie Neon. Kurz, er sieht echt cool aus. Und dagegen wäre auch gar nichts einzuwenden, solche gelangweilten Typen, die das Publikum nach verfügbarem Fickmaterial abchecken, gibt es in jedem Nachtclub zur Genüge. Das Problem ist bloß, dass er gar keine Frauen im Visier hat. Dieser Typ glotzt mich an, und zwar ziemlich penetrant. Das wiederum gefällt mir ganz und gar nicht, genauer gesagt, es macht mich echt sauer. Für einen Moment sehe ich in diesem Glotzer sogar die eigentliche Quelle für meinen beschissenen Zustand, ach was, für meine ganze Depression. Ich gehe sehr schnell auf ihn zu, renne fast, setze mich in den Sessel ihm gegenüber und schreie ihn an:
»He, du Arschloch, sind wir hier vielleicht im Zirkus?« Womit ich ihm zu verstehen geben will, dass ich kein Pausenclown bin, den er blöde anglotzen kann.
Aber der Typ nippt ganz ruhig an seinem Glas und sagt lässig:
»Ach, etwa nicht? Was ist, nimmst du einen Whiskey?« Und seltsamerweise lässt sein unaufgeregter Ton meine angestaute Aggressivität mit einem Schlag in sich zusammenbrechen. Ich fühle mich auf einmal sehr matt und gleichgültig. Als wäre ich gerade wahnsinnig gerannt, um einen Bus noch zu erreichen, und hätte ihn im letzten Moment doch noch verpasst. Ist mir jetzt einfach nur noch egal, dass ich immer und überall zu spät komme. Ich hebe die Hand, um den Kellner zu rufen, aber der Typ nimmt von dem Tischchen neben seinem Sessel ein zweites Glas und hält es mir hin. Wir stoßen an, ich nehme einen großen
Schluck und spüre, wie der Alkohol mein drogenverseuchtes Hirn wie eine warme Welle überflutet. Wir lächeln uns an, als wären wir alte Freunde und streichen uns beinahe synchron die Haare zurück. Leise sage ich:
»O Gott, wann brennt dieser beschissene Zirkus endlich ab?«
»Wenn der letzte traurige Clown ihn verlassen hat. Clowns wie du und ich. Diese Stadt ist wie ein gutes Restaurant, es bleibt geöffnet, bis der letzte Gast gegangen ist«, antwortet mein neuer Bekannter und lächelt melancholisch.
»Und was bringt uns das?«
»Gibt es noch etwas anderes? Im Grunde spielt es doch gar keine Rolle, wo und wie man seine Dauerdepression pflegt, oder? Bei seiner Arbeit oder in der Familie, bei der Liebe, beim Wodkasaufen oder beim Koksen. Eines Tages ist die Party sowieso vorbei, dann verschwinden wir sang- und klanglos von der Bildoberfläche und wissen im selben Moment schon nicht mehr, ob wir das alles nicht nur geträumt haben.«
»Warte mal«, entgegne ich, und obwohl ich versuche, das Gespräch kontrovers zu halten, stimme ich innerlich jedem seiner Worte zu. »Bist du wirklich sicher, dass wir nicht mehr erreichen können? Sind wir wirklich so festgefahren, so hohl?«
»Und ob wir das sind. Wir treten auf der Stelle, wir können nichts erreichen. Die ganze Menschheit nicht. Seit dreihundert Jahren ein und dieselbe Scheiße. Es gibt keine Ziele mehr. Die meisten denken sich irgendeinen Firlefanz
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