Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless
Präzision die rechte Faust auf den Unterkiefer knalle. Der Typ wird gegen die Sessellehne geschleudert, sofort setze ich nach und schlage ihm noch einmal ins Gesicht, prügele mit der Kraft eines Besessenen auf ihn ein, bis er samt Sessel hintenüber fällt. Ich mache zwei schnelle Schritte vorwärts, überzeugt davon, ihn ausgeknockt auf dem Fußboden zu finden, aber stattdessen hockt er da mit blutender Nase auf den Knien und lacht. Es reißt mir fast den Kopf weg vor Wut, und dieser Scheißkerl hockt da, lacht mir ins Gesicht und schreit:
»Du schlägst doch gar nicht mich, du Idiot, du schlägst dich selber! Merkst du das nicht? Na los, komm schon, Cowboy, verprügel diese blöde Schwuchtel, zerschlag deinen Spiegel, Bruder! Du wirst dir schon nicht die Pulsadern aufschneiden, keine Angst! Du hast ja nichts außer diesem Spiegel! Niemand braucht dich, nicht einmal du selbst! Du bist im Arsch, verstehst du das nicht, du Idiot?«
Ohne zu überlegen, wohin ich schlagen soll, prügele ich weiter auf ihn ein: auf den Körper, den Kopf, die Hände. Und er wälzt sich am Boden, lacht aus vollem Hals und brüllt:
»Mach weiter! Mach weiter! Los doch! Für jedes Jahr, für jede verschissene Minute! Komm schon, Junge! Wenn du schlappmachst, kann ich dir meine Telefonnummer geben!«
Allmählich lassen meine Kräfte nach. Mit jedem Schlag, mit jedem Lacher, mit jedem Wort von ihm wird mir klarer, dass meine Schläge ihm keinen Schaden zufügen. Im Gegenteil, ich fühle, dass er mir die letzte Energie aus dem Leib saugt. Als meine Kraft schon am Ende ist, bekomme ich plötzlich selbst mehrere schnelle Schläge in den Leib, dann einen wuchtigen Hieb auf den Hinterkopf, der mich zu Boden schickt. Ich falle in die Arme der Club-Wachleute.
Jemand spritzt mir Wasser ins Gesicht. Jemand anderes, ich glaube Slawa, der Promoter des Clubs, wischt mir mit einem Tuch die Nase ab. Ich stehe in der Halle vor dem Ausgang, zwei Security-Leute halten mich fest an den Armen. Vor dem Eingang zum Saal steht der schwule Typ, ein Angestellter des Clubs redet beruhigend auf ihn ein und klopft ihm das Jackett ab. Anscheinend ist dieser Typ hier ein ziemlich angesehener Gast, dem Brimborium nach zu urteilen,
das man seinetwegen treibt. Er steht da, streicht seine Haare zurück und glotzt mich an. Slawa schiebt mich zum Ausgang, der schwule Typ macht sich von dem anderen Club-Angestellten los und kommt mir hinterher. Beim Gehen wischt er sich das Blut, das ihm aus der Nase läuft, mit zwei Fingern ab und fährt sich damit unter den Augen entlang, wie ein Indianer, der seine Kriegsbemalung anlegt. Ich erstarre zur Salzsäule, bin außerstande, den Blick von seinem Gesicht abzuwenden. Ich komme mir vor wie in einem Film, in dem rationale, aufgeklärte Menschen des einundzwanzigsten Jahrhunderts auf die dunklen Kräfte des Voodoo-Kultes treffen, der seit Urzeiten nur seinen eigenen Gesetzen folgt; dem der Fortschritt des Menschengeschlechtes nichts anhaben kann. Mir wird eiskalt. Der Typ lächelt und meint: »Na, mein Junge? Jetzt führst du Krieg gegen dich selbst, stimmt’s?«
Die Security-Leute schieben mich aus dem Club auf die Straße, und als Letztes höre ich noch, wie er irgendetwas von einem verlorenen Bundesgenossen sagt. Oder habe ich mich verhört? Ich wüsste wirklich sehr gern, was er damit meinte. Ich habe das Gefühl, dass es etwas für mich ganz persönlich sehr, sehr Wichtiges war. Doch ich werde es wohl nie erfahren. Dieser üble Vorfall kommt mir wie die Begegnung mit einem unheimlichen Orakel vor. Auch wenn dieser Typ bestimmt kein Orakel ist, sondern einfach ein Schwuler mit blutiger Nase. Bei diesem Gedanken steigt meine Laune, und als ich meinen Weg fortsetze, ist mein Schritt schon erheblich sicherer. Kurz darauf erreiche ich den Tschistoprudni-Boulevard, nun auf der der Metrostation zugewandten Seite.
Die Ouverture
Schon das vierte Mal in dieser Nacht wache ich auf. Ich habe wieder irgendwelchen Blödsinn geträumt. Das Laken und die Decken sind so feucht, als stünde mein Bett irgendwo in den Subtropen. Ich schwitze, wälze mich, zerknautsche die Kissen, zähle bis hundert, kurz, ich tue alles, um endlich den Schlaf des Gerechten zu finden. Aber es gelingt mir nicht mehr. Ich stehe auf und gehe in die Küche, um Zigaretten zu holen. Ich nehme den ersten Zug, trete ans Fenster und erinnere mich, dass es mir in der vergangenen Nacht schon genauso gegangen ist. Eigentlich habe ich in den letzten drei Tagen insgesamt
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