Seelenkuss
einsetzten. Bei den Sternen, so entsetzliche Laute hatte er bisher noch nicht einmal von sterbenden Tieren gehört, geschweige denn von einem menschlichen Wesen. Was auch immer dort unten vorging, es konnte tatsächlich nicht auf einen Befehl der Königin geschehen.
» Ist das jede Nacht so? « Die Männer wichen seinem Blick aus, nickten. Réfen presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. » Ihr hättet früher zu mir kommen sollen! « Entschlossen trat er in den Durchgang und stieg die Stufen hinab, die zu den anderen Zellen führten. Garwon beeilte sich, ihm mit der Fackel zu folgen, und nach einem weiteren Augenblick hörte er auch die Schritte der anderen Krieger.
Eigentlich hatte er die niedere Tür auf der rechten Seite des Ganges, deren schweres Holz die qualvollen Laute nicht zu dämpfen vermochte, einfach aufreißen wollen, um die Grauen Krieger bei ihrem Tun zu überraschen. Doch selbst als er sich mit der Schulter dagegenstemmte, rührte sie sich nicht. In einer Mischung aus Ärger und Verwirrung blickte er die Männer an, die um ihn herumstanden. Offenbar waren sie ebenso erstaunt, dass sie sich nicht öffnen ließ, wiesen die Kerkertüren doch nur auf dieser Seite Riegel und Schlösser auf.
Ungeduldig schlug er mit der Faust gegen das Holz. » Öffnet! « , forderte er laut. Nichts außer Schweigen antwortete ihm. Nach einem Moment hieb er erneut gegen die Tür, härter dieses Mal. » Öffnet! Das ist ein Befehl! « Abgesehen von einem hohen, klagenden Laut, bei dem sich ihm die Nackenhaare aufstellten, blieb es still. » Öffnet oder ich lasse die Tür aufbrechen! « Wieder schlug er gegen das Holz, mit der flachen Hand diesmal– und sah sich unvermittelt einem der Grauen Krieger gegenüber, als sie abrupt nach innen schwang. Kälte schlug ihm entgegen, sein Atem bildete weiße Wolken, während der Graue ihn aus Augen, die unter dem Helm nicht zu erkennen waren, anzustarren schien. Über die Schulter des Kriegers erhaschte Réfen einen Blick auf zwei weitere grau gekleidete Gestalten, die sich in der hinteren Ecke der Zelle über etwas beugten. Schwere, keuchende Atemzüge waren zu hören, ansonsten herrschte eine geradezu unheimliche Stille. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Grauen in der Tür zu. » Was geht hier vor? Rede, Kerl! « Sein scharfer Ton ließ den anderen vollkommen unbeeindruckt. Réfen knurrte gereizt. » Antworte, Mann! « Der Graue starrte ihn nur weiter schweigend an. Obwohl er nicht gesehen hatte, dass die beiden anderen Krieger sich bewegt hätten, erklang wieder ein gellender Aufschrei. Als er dem Treiben der Grauen endgültig ein Ende setzen und den Kerl in der Tür beiseiteschieben wollte, hob der abrupt die Hand und legte sie gegen Réfens Brust. Geltscherkalter Schmerz explodierte unter der Berührung, jagte durch seine Glieder und schleuderte ihn in Schwärze.
3
F einer Staub tanzte in den dünnen Lichtstreifen, die durch die schmalen Spalten in den Raum fielen, an denen die schweren Vorhänge zusammenstießen. Ein wenig erstaunt blinzelte Darejan in das Halbdunkel. Warum sperrte ihre Schwester die wärmenden Sonnenstrahlen aus dem Studierzimmer des vor einigen Mondläufen verstorbenen Hofmagicus aus, wenn dies doch der Raum war, in dem sie sich in letzter Zeit beinah häufiger aufhielt als in ihren eigenen Gemächern?
» Seloran, bist du hier? « Stille antwortete ihr. Darejan runzelte leicht die Stirn. Nun gut. Sie sollte in der Lage sein, die Kräuter für Nian auch ohne Selorans Hilfe zusammenzustellen. Mit energischen Schritten durchquerte sie den Raum und zog die Vorhänge mit einem Ruck beiseite. Sofort flutete warmes Gold durch die hohen Fenster und ließ die Wandtäfelung aus poliertem Jedraholz wie mattes Kupfer glänzen.
Heute Morgen war Nian bleich und schwach aufgewacht. Dunkle Ringe unter den Augen hatten das hübsche Gesicht der jungen Magd verunziert und sie war so matt und entkräftet gewesen, dass Darejan sie voller Sorge in ihre Kammer geschickt hatte, damit sie sich ausruhte. Sie hatte sogar den königlichen Heiler zu Nian befohlen. Während der Mann sich um die Magd kümmerte, hatte sie seinen Platz an Réfens Bett eingenommen.
Ein Herzanfall! Sie konnte es noch immer nicht glauben. Réfen stand gerade erst in seinem neunundzwanzigsten Jahreslauf. Sein blasses Gesicht auf den Kissen, die schwachen Atemzüge, unter denen seine Brust sich langsam hob und senkte– Réf war in seinem ganzen Leben noch nie ernsthaft krank gewesen,
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