Seelenkuss
zusammengestellt hatte. Mit zusammengekniffenen Augen studierte sie die Titel auf den Buchrücken, bis sie fand, was sie suchte. Sie zog den schweren ledergebundenen Band hervor, legte ihn auf den Tisch, schlug die Seite auf, auf der die Rezeptur für Nians Medizin verzeichnet war, und machte sich an die Arbeit. Sehr schnell hatte sie die Ingredienzien bereitgestellt und begann, die Zutaten abzumessen.
Es war eine unbewusste Bewegung, mit der sie irgendwann den schweren Folianten ein Stück zur Seite schob, um etwas mehr Platz zu haben. Ein Scharren ließ sie den Kopf heben, sie sah einen wachsversiegelten Tiegel und eine tönerne Flasche mehr als eine Armlänge entfernt am Rand des Tisches schwanken, dann kippen. Ohne nachzudenken, hob sie die Hand, um den Fall der Gefäße mit ihrer Magie zu verhindern– und vergaß, dass sie es nicht mehr vermochte. Tiegel und Flasche zerbrachen mit einem misstönenden Krachen auf dem steinernen Boden, eine farblose Flüssigkeit lief in eine andere, fahlrote hinein und beinah im gleichen Atemzug schlugen Flammen empor. Einen Moment lang starrte sie erschrocken auf das brennende Gemisch, das träge über die Steine rann und schließlich hungrig nach einer Truhe aus altem, rissigem Holz und dem schweren Vorhang leckte, hinter dem diese halb verborgen stand. Wieder bewegte sich ihre Hand, ohne dass sie sich dessen richtig bewusst wurde– wieder ohne dass etwas geschah. Für einen kurzen Augenblick spürte sie nur Verzweiflung und Enttäuschung. Noch vor nur ein paar Tagen hätte es nicht mehr als dieser kurzen Geste bedurft, um das Feuer zu ersticken. Oder um zu verhindern, dass Tiegel und Flasche über die Tischkante kippten. Aber jetzt… Wie konnte sie sich noch länger eine Hexe nennen, wenn sie noch nicht einmal mehr in der Lage war, ein kleines Feuer mit Magie zu löschen. Der Geruch von brennendem Stoff riss sie aus ihrer Erstarrung. Hastig packte sie die Amphore und erstickte die Flammen unter einem Schwall Wein. Qualm stieg aus dem Vorhang auf. Die glänzende Feuchtigkeit versickerte in den Rissen des Deckels… Mit einem Fluch fiel sie auf die Knie und wischte hastig an dem Holz herum. Was auch immer in dieser Truhe war: Hoffentlich war nicht genug Wein hineingelangt, um es zu verderben! Seloran würde einen Vollmond kein Wort mit ihr sprechen, wenn sich darin irgendetwas Wichtiges befand, das jetzt ruiniert war. Ein letztes Zögern, dann sah sie sich nach etwas um, mit dem sie das altertümliche Schloss der Truhe öffnen könnte. Schließlich griff sie nach dem schmalen Dolch, den sie am Gürtel trug. Réfen hatte es ihr oft genug gezeigt, als sie noch Kinder gewesen waren. Tatsächlich schnappte der Bügel einen Moment später mit einem Knirschen auf und Darejan hob den Deckel der Truhe, fuhr mit der Hand über die Innenseite.– Alles war trocken. Erleichtert stieß sie die Luft aus, doch dann bemerkte sie aus dem Augenwinkel das breite Rinnsal, das in den Ritzen und Löchern einer zerbrochenen Bodenplatte am Fuß der Kaminmauer versickerte. Nein! Die Sveti! In erschrockener Eile kroch sie zu den schadhaften Steinen hin und zwängte mühsam die Finger in die Spalten, um sie aus dem Boden zu lösen, ohne auch nur einen Gedanken darauf zu verschwenden, dass sie sich die Haut aufschürfte und die Nägel einriss. Die Sveti vertrugen keine Feuchtigkeit! Und eine kleine Gruppe der pelzigen Tiere lebte unter der zerbrochenen Steinplatte und in der Kaminmauer dahinter. Meister Faneren hatte die etwa handgroßen Geschöpfe mit dem Hornkamm, der sich von ihren schmalen Drachenschnauzen bis zur Spitze ihres flachen Schwanzes zog, hier geduldet, weil allein ihre Anwesenheit genügte, um jedwedes andere Getier fernzuhalten, das seinen kostbaren Büchern oder Kräutern gefährlich werden könnte. Wie oft hatten Seloran und sie selbst die Tiere auf dem Schoß gehabt und mit Brot oder süßen Roonfrüchten gefüttert. Es wäre schrecklich, wenn sie durch ihr Ungeschick mit dem Wein in Berührung kämen.
Endlich! Nachdem sie das erste Bruchstück gelöst hatte, waren die anderen problemlos beiseitezuräumen. Doch als sie sich vorbeugte, sog sie verblüfft den Atem ein. Der Hohlraum unter der Platte war nicht leer, auch wenn keines der Tiere sich darin aufhielt. Das Heft eines Schwertes glänzte darin. Die Klinge steckte in einer Scheide aus dunklem Leder, auf der sich deutlich sichtbar feuchte Flecken abzeichneten. Jemand hatte sie mit der Spitze voraus tief in den Svetibau
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