Seelenlos
Beobachter, der nicht in der Lage war, das Geschehen zu beeinflussen –, dann war sein Elend vorprogrammiert.
»Er liebt Sie, Dr. Jessup. Er sieht Sie als seinen wahren, ja seinen einzigen Vater.«
Ich war dankbar für die völlige Dunkelheit und für Dr. Jessups gespenstisches Schweigen. Inzwischen sollte ich eigentlich einigermaßen gewappnet sein gegen das, was mir ständig begegnet:
gegen den Kummer der Hinterbliebenen und den scharfen Schmerz jener, die verfrüht zu Tode gekommen sind und gehen mussten, ohne Lebewohl sagen zu können. Dennoch werde ich Jahr für Jahr empfindlicher, was diese beiden Dinge angeht.
»Sie wissen ja, wie Danny ist«, fuhr ich fort. »Ein zäher kleiner Bursche. Immer macht er Witze, aber ich weiß, was er wirklich fühlt. Und Sie wissen doch sicherlich auch, was Sie Carol bedeutet haben. Carol hat Sie unheimlich lieb gehabt, das hat man gesehen.«
Eine Zeit lang teilte ich sein Schweigen. Wenn man sie zu sehr drängt, dann verkrampfen sie sich oder geraten womöglich sogar in Panik.
In diesem Zustand aber können sie den Weg von hier nach dort nicht mehr sehen – die Brücke, das Tor oder was immer es ist.
Ich ließ Dr. Jessup Zeit, um aufzunehmen, was ich gesagt hatte. Dann fuhr ich fort: »Sie haben so viel von dem getan, was hier Ihre Aufgabe war, und Sie haben es gut getan, es richtig gemacht. Das aber ist alles, was wir erwarten können – die Chance, es richtig zu machen.«
Wieder folgte gemeinsames Schweigen, dann ließ er meine Hände los.
Gerade als ich die Berührung mit Dr. Jessup verlor, ging die Tür auf. Das Küchenlicht vertrieb die Dunkelheit, und Chief Wyatt Porter ragte über mir auf.
Er ist groß, hat runde Schultern und ein langes Gesicht. Leute, die nicht in der Lage sind, das wahre Wesen des Chiefs in dessen Augen zu lesen, denken eventuell, er sei ein durchweg melancholischer Typ.
Als ich aufstand, spürte ich, dass die Wirkung des Tasers noch nicht völlig abgeebbt war. Erneut knisterten elektrische Phantomgeräusche in meinem Kopf.
Dr. Jessup war verschwunden. Vielleicht war er in die nächste Welt weitergereist, vielleicht spukte er aber auch wieder im Garten herum.
»Wie fühlst du dich?«, fragte der Chief und trat einen Schritt zurück.
»Gegrillt.«
»Taser richten keinen echten Schaden an.«
»Riechen Sie verbranntes Haar?«
»Nein. War es Makepeace?«
»Der nicht«, sagte ich, während ich in die Küche trat. »Irgendein schlangenhafter Kerl. Haben Sie Danny gefunden?«
»Hier ist er nicht.«
»Das hätte ich auch nicht vermutet.«
»Die Luft ist rein. Nimm den Hinterausgang.«
»Ich nehme den Hinterausgang«, sagte ich.
»Warte am Baum des Todes.«
»Ich warte am Baum des Todes.«
»Sag mal, Junge, stimmt irgendetwas nicht?«
»Meine Zunge juckt.«
»Du kannst sie kratzen, während du auf mich wartest.«
»Danke, Sir.«
»Odd?«
»Sir?«
»Los!«
6
Der Baum des Todes steht ein Stück weit von Dr. Jessups Haus entfernt im Garten der Villa Ying.
Im Sommer und im Herbst ist die gut zehn Meter hohe Engelstrompete ihrem Namen gemäß mit gelben Kelchen geschmückt. Manchmal hängen über hundert, vielleicht sogar zweihundert Blüten, jeweils fünfundzwanzig bis dreißig Zentimeter lang, von ihren Zweigen.
Mr. Ying genießt es außerordentlich, über die tödliche Natur dieser wunderhübschen Pflanze zu dozieren. Jeder Teil des Baums – Wurzeln, Stamm, Rinde, Blätter, Kelche, Blütenstaub – ist giftig.
Wenn man nur ein Fitzchen Blatt verzehrt, führt das zu Blutungen aus der Nase, Blutungen aus den Ohren, Blutungen aus den Augen und explosivem, unheilbarem Durchfall. Innerhalb einer Minute fallen die Zähne aus, die Zunge wird schwarz, und das Gehirn beginnt sich zu verflüssigen.
Womöglich ist das eine Übertreibung. Als Mr. Ying mir zum ersten Mal von diesem Baum erzählt hat, war ich ein achtjähriger Junge, und der vorangehende Absatz stellt dar, wie ich seinen Vortrag über Vergiftungen durch Engelstrompeten aufgenommen habe.
Weshalb Mr. Ying – wie auch seine Frau – derart stolz darauf sein sollten, den Baum des Todes gepflanzt und gehegt zu haben, ist mir schleierhaft.
Ernie und Pooka Ying sind asiatischer Herkunft, aber man denkt bei ihnen überhaupt nicht an Leute wie Dr. Fu Man Chu. Sie sind zu liebenswert, um tief unterhalb ihres Hauses ein Geheimlabor zu betreiben, in dem finstere wissenschaftliche Experimente stattfinden.
Selbst wenn sie Fähigkeit entwickelt haben sollten, die Welt zu
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