Seelenmoerder
Zehntausendmal tödlicher als Zyankali. Mit einem Milligramm kann man bereits jemanden umbringen.«
»Moment mal.« Ryne fuhr sich unsanft mit der Hand durch die Haare, als ihm ein ganz neuer Gedanke kam. »Er wollte sie vergiften?«
Han schüttelte ungeduldig den Kopf. »Die Droge ist ein Derivat von TTX, und daraus schließe ich, dass der Kerl zwar manche der Wirkungen von TTX erzielen wollte, aber nicht den Tod. Hätte er sie umbringen wollen, hätte er eine größere Menge hineingemischt. Nein, aus dem, was Sie mir
gesagt haben, schließe ich, dass er sie wahrscheinlich bewegungsunfähig machen wollte. Bei großen Dosen wäre das erste Symptom Taubheit oder ein Kribbeln der Lippen gewesen, gefolgt von völliger Lähmung, Herz- und Atemproblemen und dann dem Tod.«
Ryne zog sich einen Stuhl heran, griff nach dem Notizbuch des Chemikers und blätterte es durch, obwohl ihm keine der chemischen Formeln oder Kritzeleien wesentlich mehr sagte als das, was er auf den anderen Seiten gesehen hatte. »Alle Opfer haben von dem Kribbeln in den Lippen gesprochen«, bestätigte er. »Doch obwohl sie sich schwach gefühlt haben, nachdem er ihnen die Spritze gegeben hat, haben die meisten erwähnt, dass sie sich gewehrt hätten, also waren sie nicht ganz gelähmt. Und sie alle haben während des Übergriffs zwei Spritzen bekommen.«
Han zuckte die Achseln. »Wie gesagt, es waren nur Spuren davon vorhanden. Wenn er sich seinen eigenen Drogencocktail gemixt hat, dann ist mir unverständlich, warum er nicht eine Form von Scopolamin genommen hat, das man ebenso dazu benutzen kann, um Lähmungen und Gedächtnislücken auszulösen. Es wäre erheblich leichter zu bekommen gewesen als TTX.«
Ryne kannte Scopolamin aus seiner Anfangszeit, als er verdeckt fürs Drogendezernat ermittelt hatte. Einmal hatte er einen mit einer Gang verbundenen Drogendealerring gesprengt, der das Zeug zusammen mit Rohypnol und Liquid Ecstasy als Date-Rape-Drogen verkauft hatte.
»Woher kommt denn das meiste TTX?«
Der Chemiker grinste ihn an. »Aus dem indopazifischen Raum.«
Ryne sah an ihm vorbei auf die Wanduhr und registrierte, dass ihm bis zu seinem Treffen mit Dixon nicht mehr viel Zeit blieb. »Können Sie das ein bisschen genauer erläutern?«
»Sicher.« Han nahm ihm das Notizbuch aus der Hand und blätterte, bis er die gewünschte Seite gefunden hatte. Dann riss er sie heraus und reichte sie Ryne. »Tetrodotoxin findet man in verschiedenen Meerestieren, doch das verbreitetste ist der Kugelfisch oder Fugu. In Japan gelten die Tierchen als Delikatesse, und dort kommen auch weltweit die meisten Todesfälle wegen TTX vor. Das Zeug wird sogar beim Voodoo als Zombiegift verwendet.«
Ryne sah ihn von der Seite an. »Bitte keine Märchen.«
Der Chemiker schlug sich mit einer Hand auf die Brust. »Ich schwör’s beim Grab meiner Mutter. Vor allem in Haiti, glaube ich.«
»Also muss ich nur nach Voodoopriesterinnen, Sushiköchen und Verrückten suchen, die sich zu Hause im Aquarium Kugelfische halten«, sagte Ryne in sarkastischem Tonfall. »Danke, Mark. Das hilft mir wirklich weiter.«
»Leute, die zu Hause im Aquarium Kugelfische halten, können Sie vergessen. Die Fische erzeugen das TTX nicht selbst, das macht ein Bakterium für sie. Und das gibt es nur im Meer. Gezüchtete Kugelfische haben es nicht.«
»Das engt die Suche natürlich ein.«
»Wahrscheinlich nicht, aber vielleicht hilft Ihnen das hier weiter. In jüngster Zeit haben mehrere Pharmaunternehmen begonnen, sich für die Verwendung von TTX für medizinische Zwecke zu interessieren.«
Das Adrenalin stieg wieder. Ryne starrte den anderen Mann an, während sich seine Gedanken überschlugen. »Und wie groß ist das Interesse?«
Han zuckte die Achseln. »Kann ich nicht einschätzen. Aber ich habe in den letzten Jahren immer wieder Aufsätze in wissenschaftlichen Zeitschriften über den möglichen medizinischen Nutzen gesehen, vor allem für Schmerzmittel oder Anästhetika.«
»Das passt nicht zusammen«, erwiderte Ryne. »Unser Täter gibt den Opfern das Mittel nicht, um ihren Schmerz zu lindern – im Gegenteil.«
Han hatte wieder seine altbekannte ungeduldige Miene aufgesetzt. »TTX hat eine relative Molekülmasse, verstehen Sie?« Er blätterte in seinem Notizbuch, bis er eine formelhafte Zeichnung gefunden hatte, und tippte mit dem Finger darauf. »Pharmakologen stellen immer wieder Derivate von Drogen her, die zwar nach wie vor die erwünschte Wirkung haben, denen sie aber
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