Seelenmoerder
Stunden Recherche zusätzlich zu allem anderen, was sie heute zu erledigen hatte?
Sie beendeten das Gespräch, und Abbie stand auf, um den Laptop seitlich auf ihren Schreibtisch zu stellen. Sie konnte die beiden Computer simultan verwenden und gleichzeitig
Karen Larsen und Jim Cordray durchchecken, während sie im Internet nach näheren Angaben über die Firma Ketrum suchte. Vielleicht fand sie die Antwort auf die drängendste Frage, die sie Ryne nicht mehr hatte stellen können.
Nämlich wie das Gift aus einem Meerestier ins Blut der Vergewaltigungsopfer kam.
»Abbie. Schauen Sie mal.«
Als sie den Kopf hob, kam gerade Officer Joe Reed an ihrem Schreibtisch vorbei und zeigte mit dem Daumen hinter sich. Abbie reckte den Kopf, sah aber nicht, was er meinte. Doch nun, da sie sich ohnehin nicht mehr konzentrieren konnte, hörte sie auf einmal den Tumult, den sie zuvor ausgeblendet hatte.
»Ich gehe nicht, ehe ich ihn gesprochen habe, also holen Sie ihn schleunigst her, dann sind Sie mich umso schneller wieder los.« Als das Geschrei der Frau zu Abbie durchdrang, erhob sie sich und ging zum Eingangsbereich.
»Ma’am, ich habe Ihnen bereits gesagt, dass Detective McElroy nicht im Haus ist und heute womöglich gar nicht mehr kommt. Sie können ihm gern eine Nachricht hinterlassen …«
Abbie stieß dazu, während der leicht genervt klingende diensthabende Sergeant die ganz in Schwarz gekleidete Frau zu beruhigen versuchte – wobei dies eine ähnlich treffende Beschreibung war, wie wenn man die Sphinx als einen interessanten Steinhaufen bezeichnen würde.
Die Frau trug einen hautengen Catsuit und schenkelhohe schwarze Stiefel mit Bleistiftabsätzen, die sie gut zwölf Zentimeter größer machten. Abgerundet wurde ihre Erscheinung durch nietenbesetzte fingerlose Handschuhe, ein passendes Halsband und eine geradezu körperlich spürbare Wut, die sich jeden Moment entladen konnte.
»Gibt es ein Problem, Sergeant Foster?«, erkundigte sich Abbie freundlich.
»Aber nein«, antwortete der Beamte mit bewundernswerter Gelassenheit. »Ich habe nur versucht, dieser … Lady … zu erklären, dass …«
»Ich bin Mistress Chan, Sie erbärmlicher Wurm«, zischte die Frau.
»… dass Detective McElroy nicht hier ist und frühestens in ein paar Stunden wiederkommt. Sie wollte ihm gerade eine Nachricht hinterlassen.«
»Den Teufel wollte ich. Holen Sie ihn mir ans Telefon.« Sie knallte eine Hand auf den Tresen und beugte sich drohend vor.
Foster behielt den gelassenen Tonfall bei, doch sein Gesicht war gerötet. »Bitte treten Sie einen Schritt zurück, sonst muss ich Ihnen Handschellen anlegen und Sie wieder ins Kittchen werfen.«
Mistress Chan. Abbie ging ihre mentale Kartei durch, bis ihr einfiel, wo sie den Namen schon einmal gehört hatte. Die Domina, die Cantrell und McElroy befragt hatten. Sie musterte die Frau mit neuem Interesse. Als sie die Aufzeichnungen der Detectives durchgelesen hatte, war ihr nichts Besonderes aufgefallen, was an sich schon bemerkenswert war. Es war schwer zu glauben, dass eine Frau, die einen solchen Beruf ausübte, noch nie einem Sadomaso-Freier begegnet war, der bizarre Forderungen an sie gerichtet hatte.
Abbie taxierte die Frau und schmunzelte innerlich. Das Bizarre lag natürlich im Auge des Betrachters.
»Vielleicht kann ich Ihnen helfen, Mistress Chan«, warf sie ein und schob sich geschmeidig zwischen die Frau und den Sergeant. »Wenn Sie mit mir hier rüberkommen möchten, können wir darüber reden.«
Mistress Chan straffte sich und musterte sie argwöhnisch.
»Sie können mir einzig und allein damit helfen, dass Sie diesen Dreckskerl von McElroy herholen, damit ich ihn auseinandernehmen kann.«
»Ein verlockender Gedanke«, murmelte Abbie. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie der Sergeant ein Lächeln unterdrückte. Sachte umfasste sie den Ellbogen der Frau und führte sie zu ihrem Schreibtisch. »Ich glaube«, erklärte sie schließlich lauter, »ich kann Ihnen ungefähr sagen, wann Sie mit Detective McElroy rechnen dürfen.«
Auf dem Weg zu ihrem Schreibtisch blieb Abbie das lebhafte Interesse der Detectives und Officers um sie herum nicht verborgen, und so wechselte sie abrupt die Richtung und brachte Mistress Chan in den Besprechungsraum, wo Ryne immer die Treffen mit den Mitgliedern seiner Sonderkommission abhielt.
»Nehmen Sie doch Platz.«
»Ich stehe lieber.« Mistress Chan umklammerte eine Stuhllehne und sah Abbie aus schmalen Augenschlitzen an. »Sind Sie
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