Seelennacht
Tat.
Wir gingen weiter, immer auf Straßen, die mehr oder weniger parallel zum Highway verliefen. Nach der Zeit, die wir in dem Laster gesessen hatten, nahm Derek an, dass wir nicht mehr weit von der nächsten Kleinstadt mit einer Bushaltestelle entfernt sein konnten, aber im Grunde hatten wir keine Ahnung, wo wir waren. Und wie weit es auch sein mochte, wir mussten zu Fuß gehen und konnten es nicht noch mal riskieren, als blinde Passagiere entdeckt zu werden.
Ein Problem bei unserem Überlandspaziergang waren die Hunde. Diejenigen, die angebunden waren, begannen wie rasend zu bellen, sobald sie Derek witterten. Niemand schien deswegen misstrauisch zu werden – ich nehme an, hier draußen gab es so wenige Fußgänger, dass die Hunde jeden Einzelnen von ihnen anbellten und die Besitzer es ignorierten.
Auf dem Land zu sein bedeutete allerdings auch, dass viele der Hunde eben
nicht
angebunden waren. Mehr als einer kam seine Einfahrt entlanggerast, aber nach einer Weile wussten wir, wie wir uns am besten zu verhalten hatten. Beim ersten Bellen blieben wir stehen. Ich schob mich hinter Derek. Er wartete, bis das Tier nahe genug war, um Blickkontakt herstellen zu können. Und sobald der Hund einen Blick auf ihn hatte werfen können, drehte er sich um und brachte sich kläffend in Sicherheit.
»Rennen sie immer weg?«, fragte ich, während wir zusahen, wie ein gelber Labrador mit eingekniffenem Schwanz davonstürzte.
»Kommt auf den Hund an. Die großen Hunde auf dem Land, so wie der da? Yeah. Die kleinen Spielzeugviecher in der Stadt sind’s, die den Ärger machen. Überzüchtet, sagt mein Dad – es macht sie nervös und ruiniert den Instinkt. Letztes Jahr hat mich ein Chihuahua angegriffen.« Er zeigte mir eine blasse Narbe an der Hand. »Hat ein ganz schönes Stück rausgebissen.«
Ich prustete los. »Ein Chihuahua?«
»Hey, das Vieh war aggressiver als ein Pitbull. Ich war mit Simon im Park, wir haben ein bisschen gekickt, und plötzlich kommt die kleine Ratte von irgendwoher angerannt, springt hoch und verbeißt sich in meiner Hand. Hat einfach nicht mehr losgelassen. Ich hab ihn abschütteln wollen, und der Besitzer hat mich angebrüllt, ich soll seinem kleinen Tito nichts tun. Irgendwann bin ich den Hund losgeworden – alles war voll Blut, und der Besitzer hat sich nicht mal entschuldigt.«
»Ist es ihm gar nicht komisch vorgekommen? Dass sein Hund so auf dich losgegangen ist?«
»Nee. Er hat gesagt, der Ball müsste ihn provoziert haben und wir sollten besser aufpassen. Wenn irgendwas Merkwürdiges passiert, finden die Leute ihre Erklärungen von allein.«
Ich erzählte ihm von dem Mädchen in der Gasse, das geglaubt hatte, Tori hätte einen Elektroschocker eingesetzt.
»Yeah«, sagte er. »Wir müssen vorsichtig sein, aber meistens erklären sie sich’s selbst.«
Wir machten Platz, als ein Pick-up vorbeifuhr. Der Fahrer hob dankend eine Hand, ich winkte zurück und sah ihm nach, bis ich mir sicher war, dass er nicht anhalten würde.
»Und reagieren alle Tiere so auf dich? Ich weiß, du hast mal was davon gesagt, dass Ratten einen Bogen um dich machen.«
»Die meisten Tiere tun’s. Sie sehen einen Menschen und riechen etwas anderes, und das verwirrt sie. Aber die Hunde sind am schlimmsten.« Er unterbrach sich. »Nein, Katzen sind am schlimmsten. Katzen mag ich wirklich nicht.«
Ich lachte. Die Schatten wurden länger, und Derek wechselte die Straßenseite – auf der anderen Seite war es noch sonnig.
»Ich war mal im Zoo«, fuhr er fort. »Exkursion in der fünften Klasse. Dad hat’s verboten wegen der Werwolfsache. Ich war sauer. Richtig sauer. Damals sind die Tiere noch nicht ausgerastet, ich hab sie nur unruhig gemacht. Also hab ich entschieden, dass Dad einfach unfair war, und bin trotzdem mitgegangen.«
»Wie hast du das gemacht?«
»Mein Taschengeld gespart und seine Unterschrift gefälscht.«
»Und was ist passiert?«
»Ziemlich genau das, was Dad erwartet hatte. Die Raubtiere hab ich nervös gemacht, und die Beutetiere sind in Panik geraten. Die anderen in der Klasse haben es aber cool gefunden. Auf diese Weise haben sie zu sehen gekriegt, wie ein Elefant angreift.«
»Im Ernst?«
»Hm. Danach hab ich mich ziemlich mies gefühlt und hab mich von den Gehegen ferngehalten. Das war sowieso nicht das gewesen, was ich eigentlich hatte sehen wollen.«
»Sondern? Moment – die Wölfe, stimmt’s?«
Er nickte.
»Du wolltest sehen, ob sie dich als einen von ihnen
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