Seelennacht
erkennen.«
»Nee, das wäre doch albern gewesen.« Er ging ein paar Sekunden lang schweigend weiter. »Na ja, eigentlich hast du recht. Ich wollte genau das. Ich hatte da so eine …« Er suchte nach dem Wort.
»Wunschvorstellung?«
Der finstere Blick teilte mir mit, dass das nicht der Ausdruck war, den er selbst gewählt hätte. »Eine
Vorstellung,
dass sie mich wittern würden und …« Er zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Einfach dass sie irgendwas tun würden. Dass irgendwas Cooles passieren würde.«
»Ist es passiert?«
»Ja, zumindest, wenn man es cool findet, zuzusehen, wie sich ein Wolf am Zaun blutig drischt.«
»Oh.«
»Es war …« Sein Blick glitt die Straße entlang, wurde abwesend und sein Gesichtsausdruck undeutbar. »Übel. Ich bin abgehauen, so schnell ich konnte, aber er hat nicht aufgehört. Am nächsten Tag hat ein Junge in der Schule erzählt, dass sie den Wolf eingeschläfert haben.«
Ich sah zu Derek auf.
Er sprach weiter, den Blick immer noch auf die Straße gerichtet. »Ich bin nach Hause gegangen und hab mir die Zeitung genommen, aber der Lokalteil war weg. Dad hatte es schon gelesen und erraten, was passiert war. Aber er sagte kein Wort. Er hatte gemerkt, dass ich am Abend wegen irgendwas verstört gewesen war, und ich nehme mal an, er hatte sich gedacht, dass das Strafe genug war. Also bin ich in den Laden gegangen und hab mir selbst eine Zeitung gekauft. Und es hat gestimmt.«
Ich nickte. Ich wusste nicht recht, was ich dazu hätte sagen sollen.
»›Plötzliche grundlose Aggressivität Menschen gegenüber‹«, zitierte er, als hätte er die Worte nie vergessen. »Wölfe benehmen sich normalerweise nicht so. Diese ganzen Geschichten über den großen bösen Wolf sind Mist. Ja, klar, es sind Raubtiere, und sie sind gefährlich. Aber sie wollen nichts mit Menschen zu tun haben, wenn sie’s irgendwie vermeiden können. Sie greifen nur an, wenn sie krank oder halb verhungert sind oder ihr Territorium verteidigen. Ich war ein Einzelgängerwolf, der ins Revier eines Rudels eingedrungen war. Er war der Alpha. Es war seine Pflicht, sein Rudel zu verteidigen. Und deswegen musste er sterben.«
»Du wolltest ja nicht, dass das passiert.«
»Das ist keine Entschuldigung. Dad hatte mir von Wölfen erzählt. Ich hab gewusst, wie sie sich verhalten. Ich hab’s bei den anderen Jungen gesehen, den anderen Versuchspersonen.«
»Erinnerst du dich an sie? Simon war sich da nicht sicher.«
»Yeah, ich erinnere mich.« Er rieb sich den Nacken, während er sprach, und sah mich dann an. »Wirst du allmählich müde?«
»Ein bisschen.«
»Dürfte jetzt nicht mehr weit sein. Also, äh …« Er schien nach Worten oder nach einem anderen Thema zu suchen. Ich hoffte, er würde weiter über sich oder über die anderen Werwölfe reden, aber als er schließlich weitersprach, sagte er: »Diese Spezialschule, auf die du da gehst. Du hast da den Schwerpunkt Theater?«
»Ich habe darstellende Künste belegt, aber wir haben trotzdem alle normalen Fächer, Mathe, Englisch, Naturwissenschaften …«
Und so sprachen wir während der letzten Kilometer über unverfänglichere Themen.
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33
W ir erreichten die nächste Stadt und die Bushaltestelle – ein Blumenladen, in dem die Fahrkarten an der Theke verkauft wurden. Wir fragten nach dem Schülertarif und bekamen ihn, so wie wir ihn in Buffalo bekommen hatten, ohne dass auch nur Fragen gestellt wurden. Typisch.
Wir hatten also etwas Geld übrig und noch mehr als zwei Stunden Zeit, bis der Bus ging. Und was sollten wir mit all der Zeit und dem Geld jetzt anfangen? Unsere knurrenden Mägen beantworteten uns die Frage postwendend.
Es dämmerte bereits, aber am frühen Abend war es noch nicht verdächtig, wenn zwei Teenager durch die Straßen liefen. Wir suchten nach einem Lokal, wo man billiges warmes Essen bekam, und Dereks Nase führte uns zu einem chinesischen Schnellrestaurant – einem unglückseligerweise sehr beliebten chinesischen Schnellrestaurant mit einer gigantischen Warteschlange. Ich sicherte uns einen Tisch, während Derek sich in die Schlange stellte, die sich kaum vorwärtszubewegen schien. Es war erstickend heiß in dem Restaurant, und es dauerte nicht lang, bis mir die Augen zufielen.
»Müde, Liebes?«
Ich setzte mich auf und sah eine ältere Frau in einem gelben Mantel neben meinem Tisch stehen. Sie lächelte mir zu, und ich lächelte zurück.
»Ist es dir recht, wenn ich mich einen Moment lang setze?« Sie
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