Seelennacht
zeigte auf den leeren Stuhl mir gegenüber.
Mein Blick schoss zu Derek hinüber, der in der Schlange immer noch fünf Leute vor sich hatte.
»Ich gehe, wenn dein junger Mann zurückkommt«, sagte sie. »Ein fürchterlicher Betrieb hier drin, nicht wahr?«
Ich nickte und zeigte auf den Stuhl, damit sie sich setzte.
»Ich habe eine Urenkelin in deinem Alter«, sagte sie. »Etwa vierzehn, nehme ich an?«
»Hm«, ich nickte und versuchte, dabei nicht allzu nervös zu wirken. Ich sollte keine Fragen beantworten, nicht einmal unzutreffende, aber ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte. Ich sah zu Derek hinüber in der Hoffnung, er würde mich retten, aber er studierte gerade das Schild mit dem Angebot.
»Neunte Klasse?«
»Ja.«
»Und was ist dein Lieblingsfach, Liebes?«
»Drama.«
Sie lachte. »Das höre ich jetzt zum ersten Mal. Hat das mit Schauspielerei zu tun?«
Ich erklärte es ihr, und während wir uns unterhielten, entspannte ich mich. Nachdem wir Alter und Klassenstufe etabliert hatten, stellte sie keine persönlichen Fragen mehr – nicht einmal die nach meinem Namen. Sie war einfach eine alte Dame, die sich etwas unterhalten wollte. Auch für mich keine schlechte Abwechslung.
Wir schwatzten, bis vor Derek nur noch ein Mann in der Schlange stand. Dann hörte ich, wie jemand an dem Tisch hinter mir laut herauslachte. Ich drehte mich um und sah zwei Paare dort sitzen, ein, zwei Jahre älter als ich. Die Mädchen sahen angewidert aus, während einer der Jungen vor unterdrücktem Gelächter schon ein ganz rotes Gesicht hatte. Der andere versuchte erst gar nicht, sich zurückzuhalten – er krümmte sich vor Lachen.
Und alle vier sahen mich an.
Das gesamte Restaurant sah mich an.
Es war wie in einem von diesen Alpträumen, in denen man durch die Schulkorridore geht und die anderen lachen, und man weiß nicht warum, bis man plötzlich bemerkt, dass man keine Hose anhat. Ich wusste, dass ich eine Hose trug. Das Einzige, was mir einfiel, war mein schwarzes Haar. Es konnte ja wohl nicht
so
schlimm sein, oder?
»Oje«, flüsterte die alte Frau.
»W-was ist los? Was hab ich falsch gemacht?«
Sie beugte sich vor, und ich sah Tränen glitzern in ihren Augen. Tränen? Warum sollte sie …?
»Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich habe nur …« Ein trauriges kleines Lächeln. »Ich habe nur mit dir reden wollen. Du siehst aus wie ein nettes Mädchen.«
Im Augenwinkel sah ich Derek, der die Schlange verlassen hatte, mit langen Schritten auf mich zukam und die kichernden Jugendlichen anstarrte. Die Frau stand auf und lehnte sich über den Tisch zu mir.
»Es war nett, mit dir zu schwatzen, Liebes.« Sie legte die Hand auf meine … und die Hand glitt durch mich hindurch.
Ich sprang auf.
»Es tut mir so leid«, sagte sie noch einmal.
Ihr Gesichtsausdruck war so traurig, dass ich sagen wollte, es sei in Ordnung, es sei meine Schuld gewesen. Aber bevor ich ein Wort herausbrachte, verblich sie, und dann hörte ich nur noch das Gelächter um mich herum und gemurmelte Worte wie »Irre« und »Schizo«. Wie festgewachsen stand ich da, bis Derek nach meinem Arm griff, so behutsam, dass ich es kaum spürte.
»Komm schon«, sagte er.
»Yeah«, rief der lachende Typ zu uns herüber. »Ich glaube, das war jetzt genug Freigang für deine Freundin.«
Derek hob langsam den Kopf, seine Oberlippe verzog sich zu dem inzwischen allzu vertrauten Ausdruck. Ich griff nach seinem Arm. Er blinzelte kurz und nickte dann. Als wir uns umdrehten, um zu gehen, meldete sich der zweite Junge an dem Tisch zu Wort: »Mädels in der Klapse auflesen?« Er schüttelte den Kopf. »Du musst
echt
verzweifelt sein.«
Als wir draußen am Fenster vorbeigingen, hätte ich schwören können, dass sich jeder einzelne Besucher im Lokal nach uns umdrehte. Ein paar Gesichtsausdrücke nahm ich wahr – Mitgefühl, Mitleid, Widerwillen, Abscheu. Derek schob sich zwischen mich und die Scheibe und versperrte mir im Weitergehen den Blick ins Innere.
»Das hätten die nicht machen sollen«, sagte er. »Die Jugendlichen, okay. Sind halt Idioten. Aber die Erwachsenen sollten’s eigentlich besser wissen. Was, wenn du nun wirklich geisteskrank wärst?«
Er führte mich um das Gebäude herum bis zum Parkplatz und blieb dort im Schatten des überstehenden Dachs stehen.
»Du siehst keinen von denen je wieder«, sagte er. »Und wenn das die Art ist, wie die einen Geisteskranken behandeln würden, dann solltest du dir aus ihrer Meinung nichts machen.
Weitere Kostenlose Bücher