Seelenrächer
muss: Mir drängt sich immer mehr die Frage auf, ob sie nicht losgezogen ist, um sich einen Strick zu besorgen.«
Montag, 1. September, 08:30 Uhr
Conor Maggs machte sich eine Kanne Kaffee. Er stand in der winzigen Küche. Jenseits des Betonbalkons konnte er die Rückseite des Hotels sehen, wo polnische Zimmermädchen gerade die Bettlaken ausschüttelten. Es roch nach Frühstück: nach Eiern mit Speck, nach irischer Blutwurst, genannt »Black Pudding« – von der es auch eine »weiße« Variante ohne Blut gab –, und nach der Griesgrütze, die früher die armen Leute in Amerika aßen.
Er ging ins Wohnzimmer hinüber, wo er sich niederließ und seine Bibel aufschlug – eine moderne Version, nicht die King-James-Ausgabe, die seine Tante ihm zur Erstkommunion gekauft hatte. Seine Tante war immer gut zu ihm gewesen. Sie hatte ihn und seine Mutter bei sich aufgenommen, als sie nirgendwo anders mehr hinkonnten. Dabei hatte sie genau gewusst, dass ihre Schwester eine Säuferin war und ihre Sucht finanzierte, indem sie die Beine breit machte. Für einen Moment musste Maggs an seine Mutter denken. Es war nicht ihre Schuld gewesen, aber der Alhohol hatte sie alt gemacht, alt und hässlich. Zu viel Alkohol und zu viele Männer. Zu viele Zigaretten.
An jenem Morgen war sie bereits auf gewesen, bevor er zur Schule aufbrach. Das war sehr ungewöhnlich. Normalerweise trank sie abends immer so viel, dass sie um diese Zeit noch mehr oder weniger im Koma lag. An diesem Morgen jedoch benahm sie sich fast so, als wüsste sie, dass sie etwas sehr Schlimmes getan hatte. Obwohl ihr damals nicht bewusst gewesen sein konnte, wie schlimm es tatsächlich war, ahnte sie doch, dass er es herausfinden würde.
Seine Tante war bereits zur Arbeit gegangen. Conor kam aus seinem kleinen Zimmer mit dem schmalen Bett herunter, das auf die Vorderseite der mit Rauputz versehenen Doppelhaushälfte hinausging. Die Räumlichkeiten gehörten der Stadt und wurden als Sozialwohnung vermietet. Er war bereits gewaschen und trug seine Schuluniform, bestehend aus einem weißen Hemd, einem blauen Pullover und einer Krawatte, die er an diesem Tag nur locker gebunden hatte. Seine Tante sorgte sonst immer dafür, dass seine Krawatte richtig saß, wenn er das Haus verließ, doch seiner Mutter war das egal. Sie war übergewichtig und ihr Haar eine Katastrophe. Als hätte das noch nicht gereicht, trug sie auch noch einen dünnen Morgenmantel, der so gut wie durchsichtig war.
Als er sich vor seinen Cornflakes niederließ, stand sie bereits mit einer Zigarette da, eine Hand auf die Arbeitsplatte gestützt. Ihr feuerroter Nagellack blätterte ab wie bei einer billigen jungen Kassiererin, die bei der Arbeit Kaugummi kaute. Der Zigarettenqualm raubte einem den Atem, und da die Fenster geschlossen waren, verpestete der Mief die ganze Luft in der Küche.
Seine Mutter stand mit dem Rücken gegen den Herd gelehnt. Sie sprach nicht mit ihm, sondern schlug nur ein Bein über das andere, so dass zwischen den Falten ihres Morgenmantels die weiße Haut ihres Oberschenkels hervorblitzte. Er konnte auch ihre Brüste sehen, denn sie trug keinen BH. Der Anblick trieb ihm die Schamesröte ins Gesicht. Bemüht, ihrem Blick auszuweichen, goss er Milch über seine Cornflakes und fügte ein wenig Zucker hinzu. Die Arbeitsplatte war mit leeren Flaschen übersät. Größtenteils hatten sie Sherry enthalten, aber es waren auch ein paar Weinflaschen aus dem Supermarkt darunter: das deutsche Zeug, süß und billig. Wie es schmeckte, war ihr egal, solange sie nur was zum Runterkippen hatte.
Seine Tante kam nie vor halb sieben von der Arbeit nach Hause. Sie arbeitete viele Stunden in einer kleinen Fabrik und musste dazu bis nach Tralee hinausfahren. Seine Mutter hatte also tagsüber das ganze Haus für sich. Wenn die Schule aus war, ging Conor meistens zum Fluss hinunter und setzte sich dort hin, um den Ottern zuzusehen oder die kleinen Vögel zu beobachten, die zwischen dem Schilf nisteten. Da er daheim in nichts hineinplatzen wollte, machte er seine Hausaufgaben auch lieber dort unten oder – wenn es kalt war oder regnete – in der Bibliothek.
Die anderen Kinder hingen oft in der Nähe herum und kamen vorbei, um ihm entweder einen Tritt zu verpassen oder ihn einfach nur zu verarschen. Das taten sie im Grunde schon die ganze Zeit, seit er und seine Mutter fünf Jahre zuvor zugezogen waren. Allerdings benahmen sich die Erwachsenen auch nicht viel besser als die Kinder. Alle schienen zu
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