Seelenrächer
wissen, was mit seiner Mutter los war. Die Familien im Ort, die Polizisten, die Geistlichen. Er, Conor, wurde danach beurteilt, wenn auch vielleicht nicht vom Priester. Seine Tante war eine fromme Frau, die dafür sorgte, dass er mindestens zweimal die Woche zur Messe ging. Während einer dieser Messen hatte Conor Eva zum ersten Mal gesehen.
Während er nun matschige Cornflakes in sich hineinlöffelte, musste er an sie denken. Sie war die einzige Person an der Schule, die sich jemals Zeit für ihn genommen hatte. Seit seinem neunten Lebensjahr machte sie sein Leben erträglich.
Sie trug seine Kette um den Hals – die Kette, die seine Tante auf sein Drängen hin gekauft hatte, damit er sie Eva anlässlich ihrer gemeinsamen Erstkommunion schenken konnte. Er hatte ihr damit für ihre nette Art und ihre kleinen Freundlichkeiten ihm gegenüber danken wollen.
Seine Mutter hustete, woraufhin Conor den Kopf hob und sie ansah, weil er spürte, dass sie ihn schon die ganze Zeit schuldbewusst musterte. Wenn er ihren Blick nur lange genug erwiderte, musste sie irgendwann wegsehen.
»Komm heute doch mal früher nach Hause«, sagte sie in sanftem Ton, »dann mache ich dir was zum Tee.«
Überrascht starrte er sie an. Er konnte sich nicht erinnern, wann sie ihm zum letzten Mal etwas zu essen gemacht hatte – oder es ihm zumindest angeboten hatte. Seine Tante war diejenige, die immer für ihn kochte. Sobald seine Mutter ihren letzten »Kunden« losgeworden war, versank sie für den Rest des Tages in der Flasche.
»Ich habe Hausaufgaben zu machen, Mom«, murmelte er. »Dazu setze ich mich einfach in die Bibliothek. Das macht mir nichts aus.«
»Wie du meinst.« Er sah den Schmerz in ihren Augen, als sie achselzuckend ein letztes Mal an ihrer Zigarette zog, den Stummel unter den Wasserhahn hielt und dann nach oben schlurfte.
Sein Schulweg führte ihn gut anderthalb Kilometer durch die Stadt, hinaus aus dem Wohnviertel und über den großen Platz, wo er an diesem Morgen eine Gruppe von Jugendlichen vor den Läden herumhängen sah. Es waren Jimmy Hanrahan und seine Kumpels – etwa ein halbes Dutzend von ihnen. Während der Pause streiften sie immer gemeinsam über den Schulhof, auf der Suche nach einem geeigneten Opfer, das sie schikanieren konnten. Zum Glück hatten sie ihn noch nicht entdeckt. Conor verzog sich in den Eingang des indischen Restaurants, um zu warten, bis sie weg waren. Leider trödelten sie, so dass ihm wohl nichts anderes übrig blieb, als hinter ihnen herzutrödeln: Er durfte auf keinen Fall riskieren, sie auf der Straße zu überholen. Das würde Jimmy niemals dulden. Jimmy war der schlimmste Rabauke des Ortes, ein richtig fieser Kerl. Conor Maggs zu schikanieren war seine Lieblingsbeschäftigung. Mit seinen vierzehn Jahren war er sechs Monate älter als Conor, aber bei Weitem nicht so klug. Das einzige Fach, in dem er einigermaßen gut abschnitt, war englische Literatur. Den Hang zu Büchern hatte er von seiner Mutter geerbt, die angeblich sehr für alles Kulturelle schwärmte. Sein alter Herr dagegen war ein übler Säufer. Wenn er gerade mal nicht trank, verbrachte er seine Zeit mit Wildern.
Conor wartete, bis die Luft rein war, ehe er sich wieder aus dem Hauseingang wagte. Als er schließlich die Straße überqueren wollte, brauste gerade Evas Onkel Joe mit seinem Wagen heran, so dass er schnell wieder einen Schritt zurückweichen musste. Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke. Der Polizist musterte ihn, wie er es immer tat: voller Argwohn und Bösartigkeit. Das ging schon seit dem Tod von Evas Vater so.
Nachdem der Wagen vorbeigerauscht war, überquerte Conor rasch die Straße. Es kam nicht oft vor, dass Doyle sich hier blicken ließ, denn er war inzwischen bei der Polizei in Dublin und kam nur noch nach Hause, wenn er mal ein paar Tage frei hatte. Er wusste über Conors Mutter Bescheid – hatte schon immer über sie Bescheid gewusst – und war ein Paradebeispiel dafür, wie hart manche Leute urteilen konnten.
Doyle war auch an dem Tag da gewesen, als Conor, Eva und ihre Klassenkameraden Erstkommunion hatten. Conor wusste, dass Doyle damals nicht wollte, dass Eva das Geschenk annahm. Ihre Mutter aber war eine ebenso liebe Seele wie das Mädchen selbst und sagte dem alten Mistkerl, er solle nicht solche Vorurteile haben.
Und das alles nur wegen seiner Mutter. Sie war an allem schuld. Er hatte keinen blassen Schimmer, wer sein Vater war. Dutzende Männer kamen dafür in Frage, doch
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