Seelenraub
denn?
»Mach dir keine Sorgen, nächstes Mal werde ich ihn töten«, sagte Ori. Seine Stimme klang jetzt rauer.
»Glaubst du denn, dass er mich noch einmal angreift?«
Ein entschiedenes Nicken. »Darauf zähle ich. Sei also nicht überrascht, wenn ich in der nächsten Zeit oft in deiner Nähe bin.« Er grinste frech. »Die Einzige, der ich nachstelle, ist diese Ausgeburt der Hölle.«
Sie musste lächeln. »Warum hast du ihn nicht gestern Abend erledigt?«
»Ich wollte dich aus der Schusslinie haben«, erwiderte er. »Und ich wollte nicht vor den Dämonenfängern angeben. Ich werde ihn allein töten, und zwar auf meine Weise.«
»Ich weiß, dass du die Fänger nicht magst, aber der Zunft fehlen im Moment ein paar Leute. Ich wette, du könntest den Job ohne Probleme bekommen.«
Ihr Begleiter schüttelte den Kopf. »Ich arbeite allein.«
Sie hatte mit dieser Antwort gerechnet, denn Ori war freiberuflicher Dämonenjäger, ein Freelancer. Fänger konnten diese Einzelkämpfer nicht ausstehen, weil sie sich nicht an die Zunftregeln hielten. Und die Dämonenjäger Roms mochten sie nicht, da sie dem Vatikan nicht genügend Ehrerbietung entgegenbrachten. Sie waren eine Macht für sich, jeder Einzelkämpfer war sein eigener Herr, der die Dämonen behandelte, wie er es für richtig hielt.
In ein paar Jahren würde sie vielleicht auch auf eigene Faust losziehen. Die Fänger mochten sie ohnehin nicht, da konnte sie genauso gut auf eigene Rechnung arbeiten.
»Wie geht es deinem Freund?«, fragte Ori.
Riley blinzelte. »Woher weißt du, dass Simon und ich zusammen sind?«
»Ich habe gesehen, dass du bei ihm warst, kurz bevor du auf den Fünfer losgegangen bist. Um keinen der anderen Fänger hast du geweint, also nahm ich an, dass zwischen euch was läuft.«
Bei seiner Logik war Leugnen zwecklos. »Heute geht’s Simon schon viel besser. Er wird es schaffen.«
Wegen mir und dem Engel
. Bei diesem Gedanken breitete sich ein warmes Glühen in ihrer Brust aus.
Neben einem Bücherstand blieb Ori stehen. Nach kurzem Zögern griff er in einen Ständer und zog ein Taschenbuch heraus. Es war Dantes
Inferno
. Er überflog ein paar Seiten und runzelte die Stirn.
»Das hat er falsch verstanden. Der Neunte Kreis der Hölle ist
keine
Eisbahn.« Angewidert klappte er das Buch zu und stellte es zurück in den Ständer.
»Hast du vorher schon einmal Engel gesehen?«, fragte Riley.
»Schon oft.«
»Oh.« Vielleicht lag es an ihr. Sie hatte in ihrem ganzen Leben erst einen einzigen gesehen.
»Du sprichst von denen gestern Abend, oder?«, fragte Ori düster. Als sie nickte, erklärte er: »Das waren …«, er hielt inne und suchte nach einem Wort, »Kriegerengel. Sie sind schon lange nicht mehr eingesetzt worden.«
Eingesetzt?
Leute vom Militär sprachen so. War Ori in der Armee gewesen?
Genau in diesem Moment wandte er den Blick ab und runzelte die Stirn, als hätte irgendetwas ihn abgelenkt. »Ich sollte besser gehen. Es war schön, dich wiederzusehen, Riley«, sagte er.
Es war, als sei er plötzlich ganz versessen darauf, zu verschwinden. Hatte sie irgendetwas Dummes gesagt?
»Danke … noch einmal. Ich werde nicht vergessen, was du für mich getan hast.«
»Es war mir ein Vergnügen.«
Riley beobachtete, wie er mit wehendem Staubmantel zwischen den Zeltreihen verschwand. Frauen drehten sich um und sahen ihm nach, er übte diese fast magnetische Anziehungskraft aus. Sie hatte eine Menge Fragen zu diesem Typ, aber es gab niemanden, dem sie sie stellen konnte. Sie hatte Ori versprochen, keinem der Fänger zu erzählen, dass er in Atlanta war, was ihr seltsam vorkam, schließlich war er letzte Nacht mitten im Getümmel aufgetaucht.
»Darüber werde ich später nachdenken.« Ihr Dad ging vor. Anschließend würde sie sich um den obergeheimnisvollen Mr Schön-aber-Schweigsam kümmern.
Riley ging weiter in Richtung des Hexenladens
Beifuß, Buch und Besenstiel
. Er war leicht zu finden, denn die goldenen und silbernen Sterne auf der mitternachtsblauen Zeltwand glitzerten in der späten Nachmittagssonne. Zu ihrer Erleichterung sortierte Ayden gerade Duftsäckchen am Ende des Tresens. Die Hexe trug ihr übliches Mittelalter-Outfit: eine Bauernbluse mit Spitzenmieder, einen weiten Rock sowie, als Zugeständnis an das kühle Januarwetter, einen schweren, smaragdgrünen Umhang. Am auffälligsten war das riesige Drachentattoo, das an ihrem Hals unter ihrem rostroten Haar begann und sich bis zu ihrem üppigen Dekolleté erstreckte.
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