Seelenriss: Thriller
was Lena schon nicht mehr für möglich gehalten hatte. Harding ließ die Hand mit der Flasche sinken.
Komm schon, leg die gottverdammte Säure weg! , dachte Lena verzweifelt.
Schweiß perlte auf seiner Stirn, als er die Flasche mit zittrigen Händen auf dem Fußboden abstellte. »Sehr gut«, fuhr Lena fort, doch kaum hatte er die Flasche abgestellt, riss er Lenas auf dem Boden liegende Dienstwaffe an sich.
»Tun Sie das nicht, legen Sie die Waffe wieder auf den Boden!«, rief Lena. Behutsam redete sie immer weiter auf ihn ein, und es vergingen schweißtreibende Minuten, bis Harding schließlich tat, was sie sagte. Ihr Herz raste, während Harding sich mit der Pistole in der Hand wie in Zeitlupe zur Seite bückte. Er war jetzt kaum mehr als eine Handbreit davon entfernt, diesem Alptraum ein Ende zu bereiten, doch dazu sollte es nicht mehr kommen.
Just in dem Moment, in dem er die Pistole ablegen wollte, flog lautstark die Wohnungstür auf. Aufgescheucht fuhr Harding herum. Lena, deren Gesichtsfarbe kurzzeitig zurückgekehrt war, wurde abermals kreidebleich, als sie sah, wie Dreschers schießwütige Einsatzkräfte des Sonderkommandos durch den Flur gestürmt kamen.
»Nein! Nicht schießen!«, schrie Lena aus voller Kehle, als sie im nächsten Moment Zeuge wurde, wie die Männer auf Harding zielten.
Christoph Harding stand vollkommen paralysiert mit der Waffe in der Hand da und rührte sich nicht. Sein Gesicht war ganz weiß geworden, doch nichts in seiner Miene verriet, was in ihm vorging.
»Waffe runter und Hände über den Kopf!«, brüllte Volker Drescher, der soeben mit Wulf Belling und Ben Vogt im Flur auftauchte.
Lenas Blick schnellte zu Belling und wieder zurück zu Harding, der jetzt kurz davor war, die Kontrolle zu verlieren. Lena wusste, die Männer vom SEK würden nicht lange fackeln, und das hier würde ein blutiges Ende nehmen, wenn Harding sich nicht auf der Stelle ergab. Ihr nächster Gedanke war, dass er Anita Paul mit in den Tod reißen würde, um seine Mission zu beenden. Sie konnte nur dafür beten, dass ihre Worte etwas in Harding bewirkt hatten, dass er jetzt nicht in Panik geraten und ein Blutbad anrichten würde.
»Bleiben Sie ganz ruhig und machen Sie jetzt keinen Fehler«, redete Lena so ruhig wie möglich auf ihn ein und brachte ihn dazu, sie anzusehen, während Belling sich mit gezogener Waffe schützend vor die leise wimmernde Anita Paul stellte. Lena wartete darauf, dass Harding die Pistole weglegte und die Schützen es ihm gleichtaten. Doch niemand regte sich, und die Luft im Wohnzimmer war zum Zerreißen gespannt, da wurde vollkommen unerwartet das Schreien eines Babys laut.
Lena erschauerte. Großer Gott, es ist ein Kind in der Wohnung! Ihr Mund wurde ganz trocken, als sie sah, wie Harding sich irritiert zum Flur umwandte. Das Weinen kam aus dem Schlafzimmer. Lena, die Hardings Blick gefolgt war, machte sich innerlich darauf gefasst, dass er jeden Moment die Kontrolle verlieren und versuchen würde, ins Schlafzimmer zu stürmen. Gütiger Himmel, nicht das Baby!
Blitzschnell wandte sich Lena nach Harding um, der sich in diesem Moment den Lauf der Pistole in den Mund schob.
»Nicht!«, schrie Lena und wand sich in ihren Fesseln, doch Christoph Harding hatte bereits abgedrückt und ein ohrenbetäubender Schuss dröhnte durch das Wohnzimmer. Hardings Blut spritzte Lena ins Gesicht, als dieser vor ihren Augen zu Boden ging.
Alle standen da wie erstarrt, und für einen Augenblick herrschte Totenstille.
49
»Geht’s wieder?«, fragte Wulf Belling besorgt.
Lena saß wie versteinert auf dem Sofa, und es dauerte eine Weile, ehe die Frage in ihren Verstand drang. Schweigend sah sie zu, wie die Sanitäter Anita Paul auf einer Trage notversorgten und abtransportierten, während sich eine junge Polizistin um das Baby kümmerte. Es schrie wie am Spieß, obgleich es zuvor die ganze Zeit friedlich im Kinderzimmer geschlafen hatte, ohne dass Harding von ihm Kenntnis genommen hatte.
»Ich habe alles versucht …«, brachte Lena leise, fast flüsternd hervor. Den Blick auf Hardings blutüberströmte Leiche gerichtet, fühlte sie nichts als eine überwältigende Leere in sich.
»Ich weiß«, sagte Belling und ließ sich neben sie auf das Sofa sinken. »Sie haben Ihr Bestes gegeben – und es ist allein Ihr Verdienst, dass Anita Paul noch am Leben ist.«
Schweigend kaute Lena auf ihrer Unterlippe.
»Sie haben doch nicht etwa Mitleid mit diesem Kerl?«, fragte Belling, ihrem Blick zu
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