Seelenriss: Thriller
Harding riss Lena mit sich. Im Eifer des Gefechts rempelten sie gegen Anita Paul, so dass diese samt Stuhl umkippte und die Flasche mit der Säure zu Boden fiel. In rasender Geschwindigkeit ätzte die hochgiftige Flüssigkeit ein tellergroßes Loch in den Teppichboden. Den gequälten Lauten, die unter dem Klebeband erstickt wurden, entnahm Lena, dass Anita Paul ebenfalls etwas abbekommen hatte. Doch ehe sie sich zu der Frau umblicken konnte, riss Harding Lena in einem heftigen Handgemenge unsanft zu Boden. Ihre Dienstwaffe rutschte ihr aus der Hand und schlitterte quer durch den Raum. Lena krabbelte auf allen vieren hinterher, doch Harding war schneller. Er packte sie an den Füßen, zerrte sie zurück und stürzte sich mit seinem ganzen Gewicht auf sie, so dass sie kaum noch Luft bekam. Ehe sie es sich versah, spürte sie Hardings scharfe Messerklinge an ihrer Kehle.
»Lena Peters, sieh einer an – wie schön, dass wir doch noch zueinandergefunden haben.«
Lena lag auf dem Boden und war wie erstarrt. Ganz langsam neigte sie den Kopf und blickte Harding an. Sein Gesicht war aufgedunsen und von tiefen Furchen durchzogen. Seine Augen wirkten leer und kalt. Wütend. Traurig. Hasserfüllt.
»Sie haben gewonnen, Harding – also lassen Sie die Frau gehen«, ächzte Lena unter der Last seines Gewichts.
»Sie enttäuschen mich, Peters«, sagte Harding und lachte bitter auf. »Sie sind doch nicht ernsthaft davon ausgegangen, dass ich es auf Sie abgesehen hatte – nein, das nehme ich Ihnen nicht ab, dafür sind Sie zu gut.« Ein triumphierendes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Hätte ich es tatsächlich darauf angelegt, Sie zu töten, wären Sie längst unter der Erde.«
Lena riskierte einen Blick zu Anita Paul, die sich auf dem umgekippten Stuhl wie ein Fisch auf dem Trockenen wand. Mit Schrecken stellte Lena fest, dass sie sich die ätzende Flüssigkeit bei dem Aufprall übers Handgelenk geschüttet hatte und sich die Säure unaufhörlich tiefer ins Gewebe fraß, so dass bereits der Knochen zum Vorschein kam.
»Aber es gibt Situationen, in denen sich die Dinge schneller ändern, als einem lieb ist …«, fuhr Harding mit seiner Tirade fort.
Lena atmete stoßweise durch die Nase, während sie spürte, wie er mit seiner Messerklinge leichten Druck auf ihre Haut ausübte, gerade so viel, dass die Klinge noch nicht einschnitt. Ihr Blick huschte immer wieder zur gefesselten Frau auf dem Stuhl hinüber, die aussah, als würde sie jeden Moment ohnmächtig werden. Komm schon, halte durch! , betete Lena und wandte sich erneut Harding zu. »Warum?«, presste sie unter kurzen, flachen Atemzügen heraus. »Warum mussten all diese Menschen sterben?«
Wieder war da dieses Grinsen. »Es gibt tausend Gründe, zu töten – das weiß niemand besser als Sie, Peters«, antwortete er ausweichend.
Lena spürte, wie ihr der Schweiß ins Kreuz rann. »Sie sind kein pathologischer Triebtäter, Sie töten nicht aus purer Lust oder weil es Ihnen eine innere Stimme befiehlt. Also verraten Sie es mir: Weshalb mussten diese Menschen sterben – sie haben nichts getan.«
Hardings Gesicht verzog sich zu einer wütenden Fratze. »Genau das ist es ja. Sie haben nichts getan, rein gar nichts , trotzdem sie etwas hätten tun können !«
Obwohl ihr die Messerklinge jeden Moment in die Haut einzuschneiden drohte, befahl Lena sich, ruhig zu bleiben und sich zu konzentrieren. »Worauf wollen Sie hinaus?«
»Na schön, ich helfe Ihnen auf die Sprünge.« Plötzlich packte Harding sie bei den Haaren, zog sie hoch und zerrte sie zur Heizung. Lena wand sich unter seinem Griff, als er sein Messer einsteckte und sie mit den Händen hinter dem Rücken so straff an das Heizungsrohr fesselte, dass es ihr jegliches Blut in den Adern abdrückte. »Das hier dürfte Ihre Frage beantworten«, sagte er dann und brachte sein Smartphone zum Vorschein. Seine Augen blitzten fanatisch auf, als er es Lena entgegenstreckte und ein Video darauf abspielte.
»Was soll das werden?«, ächzte Lena und beugte sich leicht vor, um einen Blick darauf zu werfen.
»Das ist ein Überwachungsvideo der Berliner Verkehrsgesellschaft«, erklärte er mit finsterer Miene.
Lena kniff die Augen zusammen. Gebannt verfolgte sie, wie eine Schar kreischender Menschen aus einem U-Bahn-Schacht flüchtete, in dem ein brennender Waggon stand. Die in Panik geratenen Fahrgäste eilten über das Gleis und kletterten den Bahnsteig hinauf, um sich in Sicherheit zu bringen. Als nur
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