Seelenriss: Thriller
zunächst für ein Geschenk gehalten und sich gefragt, wer es ihr geschickt haben mochte, denn die Sendung enthielt keinen Absender. Lena hatte auf ihren Nachbarn Lukas Richter getippt, dem sie während der Ermittlungen zu ihrem letzten Fall nähergekommen war, nachdem er ihr mit seinen begnadeten Fähigkeiten als Hacker zur Seite gestanden hatte. In sich hineinschmunzelnd, war sie mit dem Daumen über die Prägung im ledernen Umschlag gefahren und hatte die Seiten durchblättert, als sie urplötzlich erstarrt war. Kalter Schweiß brach ihr aus, während ihr Blick auf der letzten Seite des Notizbuchs verharrte, auf der in blutroter Schrift die unmissverständliche Botschaft geschrieben stand: »Tu, was ich dir sage. Oder ich töte dich.«
Die Nachricht war handschriftlich und dem kriminaltechnischen Laborbericht zufolge mit Tierblut verfasst worden. Seit Erhalt der Botschaft war nun schon eine knappe Woche vergangen, aber mehr war noch immer nicht über den anonymen Verfasser bekannt. Die Morddrohung war für Lena aus heiterem Himmel gekommen. Wann immer sie daran dachte, beschäftigte sie die Frage nach einem möglichen Zusammenhang zwischen jener Botschaft und der Tatsache, dass sie nur wenige Tage zuvor einen der brutalsten Serienmörder der deutschen Kriminalgeschichte überführt hatte. »Der Stümmler«, wie ihn die Presse getauft hatte, hielt sich selbst für einen begnadeten Künstler. Er hatte seine Opfer auf bestialische Weise zerstückelt und die Leichenteile plastiniert, um sie zu einem »Gesamtkunstwerk« zusammenzusetzen, das in seiner kranken Phantasie dem Abbild seiner geliebten Schwester entsprach.
Lena war mit den Denkweisen von Psychopathen wohlvertraut. Daher wunderte es sie wenig, dass der Grundstein der Persönlichkeitsstörung des Mannes in seiner schwierigen Kindheit zu suchen war. Diese war eine einzige Tragödie gewesen und wies mehr Parallelen zu ihrer eigenen Kindheit auf, als ihr lieb war. Dennoch hatte sie ihn unterschätzt und hätte dies, festgeschnallt auf einen OP -Tisch in seiner Spandauer Kellerwerkstatt, um ein Haar mit dem Leben bezahlt.
Wie allen seinen Opfern hatte er auch ihr ein südamerikanisches Pfeilgift gespritzt, das eine vorübergehende Lähmung der gesamten Muskulatur auslöste, jedoch keinerlei Auswirkung auf das Bewusstsein hatte. Die Opfer waren also während der gesamten Prozedur bei vollem Bewusstsein und konnten alles spüren. Der Täter hatte Lena einen Tubus in den Rachen geschoben, der an eine Beatmungsmaschine angeschlossen war, um sicherzugehen, dass sie den Eingriff bis zum Ende mitbekam und ihm keinesfalls zuvor unter den Händen wegstarb. Ihr wurde noch immer ganz schlecht, wenn sie daran dachte, wie er ihr mit seinen behandschuhten Fingern die Lider auseinandergeschoben und sie gefragt hatte: »Stehst du auf Schmerz, kleine Lena?«
Im Nachhinein hätte sie nicht mehr sagen können, was sie in jenem Moment mehr geschockt hatte: dass er kurz davor gewesen war, ihr mit dem Skalpell das Auge herauszuschneiden, oder aber die Tatsache, dass sie dieses Monster bereits seit Kindertagen gekannt hatte.
Noch immer verfolgten sie seine stechend blauen Augen, und während sie die Post, die lediglich aus Prospekten und Gratiszeitungen bestand, in den Müll warf, musste sie sich zwingen, den Gedanken an dieses Grauen abzuschütteln.
»Der ›Stümmler‹ ist tot«, rief sie sich immer wieder ins Gedächtnis. Lena hatte mit eigenen Augen gesehen, wie er von der Wucht einer gewaltigen Explosion gegen die Wand geschleudert worden und nach einem anschließenden Feuergefecht mit durchlöcherter Brust zu Boden gegangen war. Doch wer um alles in der Welt hatte ihr nun diese Morddrohung gesandt?
Während Lena ihren Gedanken nachhing, kam Napoleon in die Küche getapst und wand sich maunzend um ihre Knöchel. Lena hob ihn hoch und streichelte ihm über das gescheckte Fell. Der Kater war ihr vor drei Jahren in Köln zugelaufen und seither nicht mehr von der Seite gewichen. Lena hatte es nicht übers Herz gebracht, ihn bei ihrem Umzug nach Berlin zurückzulassen. Ihre Zwillingsschwester Tamara hatte ihn bei ihrem letzten, wie immer unerwarteten Besuch als den hässlichsten Kater der Welt bezeichnet. Doch Lena liebte den eigensinnigen Kater und hatte die Entscheidung, ihn mitzunehmen, bis heute nicht bereut. Sie setzte Napoleon wieder ab und blickte ihn fragend an. »Was, wenn sich bloß jemand einen schlechten Scherz mit mir erlaubt hat?« Der Kater blieb stumm und leckte
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